Das alte Kind
habe.« Jetzt drehte er sich um und sah Ben direkt an. »Ich habe recht, verstehen Sie?«
Zug, Schweiz, 17.4.1980
Liebe Frau Grabowski,
lange habe ich mich nicht bei Ihnen gemeldet, aber unser letzter Kontakt war nicht sehr erfreulich, was mir aufrichtig leid tut. Ich war damals in keiner sehr guten Verfassung. Natürlich verstehe ich, daß Sie mir böse waren wegen der Kündigung. Aber ich hoffe, daß sich die Wogen nach so langer Zeit nun geglättet haben und wir beide über die harten Worte, die gefallen sein mögen, hinwegsehen können. Bei unserem letzten Gespräch hatte ich von Ihnen wissen wollen, ob Sie in dem Kind, das ich bei mir hatte, Felicitas wiedererkennen. Heute frage ich Sie wieder, und ich bitte Sie eindringlich, ganz, ganz ehrlich zu mir zu sein. Bitte lassen Sie dabei die Gefühle, die Sie mir gegenüber hegen mögen, außer acht. Es geht vielmehr um das Leben und das Wohl eines sehr kranken Kindes. Ich bin mir heute sicherer als damals, daß das Kind, das ich aus dem Krankenhaus mitnehmen mußte, nicht mein eigenes ist. Dieses Kind ist, wie Sie vielleicht aus der Zeitung erfahren haben, schwer krank, und ich würde mir so sehr wünschen, daß sich die richtige Mutter um das kleine Mädchen kümmern kann. Natürlich sehne ich mich auch nach meiner eigenen Tochter. Bitte denken Sie noch einmal ganz genau nach. Ich lege Ihnen ein aktuelles Foto des Kindes bei. Versuchen Sie, über die Veränderungen, die die Krankheit mit sich gebracht hat, hinwegzusehen, und sagen Sie mir, ob Sie in diesem Gesicht Felicitas wiedererkennen. Ich danke Ihnen von Herzen und verbleibe mit freundlichen Grüßen
Ihre
Carla Arnim
PS: Bitte sehen Sie die beigefügten 100 DM nicht als Bestechung, sondern vielmehr als Entschuldigung, daß ich Sie damals als Lügnerin beschimpft habe, als Sie sagten, das Kind sei Felicitas.
PPS: Wenn Sie antworten, adressieren Sie Ihren Brief doch bitte an Frau Ella Martinek, z. Hd. Carla Arnim, Akazienstr. 25, 1000 Berlin 62.
Zug, Schweiz, 17.4.1980
Liebe Mrs Chandler-Lytton,
vielleicht erinnern Sie sich noch an mich, wir lernten uns vor knapp drei Jahren bei einem Filmabend des British Council in Berlin kennen. Wir wollten beide am Rand sitzen, um schneller zur Toilette zu kommen, sollte es nötig sein. Ich, weil ich schwanger war, und Sie hatten, wie Sie sagten, »literweise Tee getrunken, schlechte englische Angewohnheit«. Sie sehen, ich erinnere mich sehr genau an unsere erste Begegnung und hoffe, auch ich bin Ihnen nicht entfallen. Anschließend sind wir uns noch zwei-, dreimal über den Weg gelaufen.
Falls Sie sich nicht mehr erinnern: Aus meiner Schwangerschaft wurde ein prächtiges, gesundes kleines Mädchen, das wir Felicitas nannten. Als sie etwa ein halbes Jahr alt war, mußte ich für eine Woche ins Krankenhaus wegen einer Gürtelrose. Daran erinnern Sie sich bestimmt, mir ist nämlich vor kurzem eingefallen, daß Sie es ja bei einem Besuch in meiner Galerie waren, die mir empfahl, damit sofort ins Krankenhaus zu gehen.
Während dieser Zeit wurde Felicitas von mir getrennt, damit sie sich nicht ansteckte. Als es mir wieder besser ging, brachte man mir – Sie werden es nicht glauben – ein fremdes Kind und behauptete, es handele sich dabei um meine Tochter.
Ich tat alles, um die Menschen um mich herum davon zu überzeugen, daß dies nicht meine Tochter ist. Aber niemand, nicht einmal mein Mann, glaubte mir. Meine Ehe ist mittlerweile, wenn ich es so ausdrücken darf, im Eimer. Ich weiß, wie sich das alles anhören muß, aber ich sage die Wahrheit.
Ich suche seit anderthalb Jahren nach meiner Tochter, ohne Erfolg. Nun ist das fremde Kind auch noch krank geworden, es hat das Hutchinson-Gilford-Syndrom, was Ihnen als Ärztin vielleicht etwas sagt. Natürlich suche ich mit allen Mitteln nach seiner echten Mutter, aber auch da habe ich keinen Erfolg. Ich weiß aber ganz genau, daß irgendwo eine Frau mit Felicitas herumläuft.
Sie haben meine Kleine doch in der Galerie gesehen. Ich würde Sie als Ärztin nun bitten, sich die Fotos, die ich Ihnen von dem fremden Kind beilege, mit Fotos von mir, meinem Mann und unserem Sohn zu vergleichen. Sie werden feststellen, dass es keinerlei Familienähnlichkeit gibt. Wenn Sie mir dies nur schriftlich bestätigen könnten? Ihnen erwächst daraus keine weitere Verpflichtung, ich bitte Sie nur um eine allgemeine Einschätzung und hoffe, daß Sie meine Not verstehen.
Wenn Sie sich mit mir in Verbindung setzen
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