Das alte Kind
Sekunde wahrscheinlicher – hatte Mòrag absichtlich Fionas und auch Patricias Sachen durchwühlt. Was hatte sie noch entdeckt? Etwa das Fotoalbum? Sie fasste einen Entschluss: Wenn Mòrag ihre Privatsphäre verletzt hatte, dann würde sie das Gleiche bei ihr tun. Und zwar genau jetzt.
Ihr fielen die kleinen Zufälle ein, die sie hatten glauben lassen, dass Mòrag und sie auf vielen Gebieten den gleichen Geschmack hatten. Fiona kaufte eine CD, und noch bevor sie sie gespielt hatte, kam Mòrag mit genau derselben angerannt. Mit Büchern dasselbe. »Oh, du liest es ja auch gerade!« Shampoo. Cremes. Parfüm. Wie hatten sie darüber gelacht, dass es schon wieder passiert war. »Wie echte Zwillinge«, hatte Mòrag dann immer gesagt. Wie oft hatten sie die Sachen verschenkt oder umgetauscht, und ja, es war immer Mòrag gewesen, die stolz erzählt hatte, wie gleich sie doch tickten, in Gedanken nahezu eins. Natürlich hatte es immer Dinge gegeben, die sie unterschieden hatten. Vielleicht war es Fiona deshalb nicht aufgefallen. Vielleicht aber übertrieb sie gerade, und es war alles ganz harmlos.
Was diesen Anruf noch immer nicht erklären würde.
Fiona blieb dabei, sie würde Mòrags Zimmer durchsuchen. Es war ihr egal, ob sie dabei erwischt wurde oder nicht. Sollte sie doch nach Hause kommen und sehen, was Fiona tat! Ihr fiel die Sicherheitskette ein: Mòrag legte sie oft vor, wenn sie allein zu Hause war. »Da waren komische Leute, die von Tür zu Tür gegangen sind« oder: »Du weißt doch, dass ich Angst allein im Dunkeln habe«, immer eine Erklärung. Fiona würde die Kette nicht vorlegen. Und wenn sie ehrlich war, hoffte sie, dass Mòrag sie erwischte und es für alles eine ganz einfache Erklärung gab.
Sie nahm sich der Reihe nach alle Schubladen und Schränke vor. Sie fand: Kleidungsstücke von sich, die sie schon Ewigkeiten vermisst und schließlich vergessen hatte. Das war okay, das störte sie nicht. Kontoauszüge, die verrieten, dass Mòrag finanziell sehr viel schlechter dastand, als Fiona geahnt hatte. Fotos von sich, Porträts in Vergrößerung, was sie gruselig fand. Okay, dann hatten eben alle recht gehabt, und Mòrag war krank im Kopf. Fiona hatte sie immer verteidigt, hatte immer gesagt, nein, lasst sie, sie ist okay, und wir haben nun mal wirklich in fast allem den gleichen Geschmack, ihr glaubt ja gar nicht, was uns dauernd passiert. Ha bloody ha. Einige der Fotos waren weit älter als zwei Jahre. Sie hatte Fiona also schon gekannt, bevor man sie einander vorgestellt hatte. Sie hatte sich vorher schon in Fiona verwandelt.
Gut, Mòrag war definitiv gestört. Und Fiona hatte sich einwickeln lassen. Die Sehnsucht nach einer Schwester? Der Wunsch nach einer echten Freundin? Der Kick, für jemanden das absolute Idol zu sein, was ja nur bedeutete, dass man es irgendwie geschafft hatte?
Wer ist hier die echte Wahnsinnige, sie oder ich?
Fiona suchte weiter, fand nicht ihren grün-goldenen Mantel, den sie in Mòrags Schrank vermutet hatte. (Wahrscheinlich trug sie ihn gerade.) Fand Chanel-Schuhe, die sie noch nie gesehen hatte, aber unwiderstehlich schön fand. (Sie würde sie sich »ausleihen«, auf Nimmerwiedersehen, 400 Pfund!) Fand in einer dunklen Schrankecke eine Flasche mit Valium-Pillen. Und war umso mehr erschüttert. Dass Mòrag auch noch Diazepam einnahm! Ging sie wirklich so weit? Sie hatte sich nie über Schlafstörungen oder Ähnliches beklagt. Woher wusste sie überhaupt, dass Fiona sie nahm? Sie trug die Pillen immer bei sich am Körper, schlief nachts sogar auf ihnen, damit keiner je davon erfuhr. Als hätte sie geahnt, dass sie ausspioniert wurde.
Die Flasche war zur Hälfte leer. Sie war schon vor Monaten verschrieben worden, Mòrags Name stand auf dem Etikett. Fiona setzte sich auf das Bett. Wer zum Einschlafen Valium brauchte, hatte es griffbereit neben dem Bett, nicht versteckt im Schrank. Wer etwas großzügiger mit den Pillen umging, weil er zum Beispiel unter Panikattacken litt, hatte die Pillen stets griffbereit, in jeder Lebenslage. Hatten sie nicht im Krankenhaus gesagt, sie hätte eine extrem hohe Konzentration Diazepam im Blut gehabt? Fiona war vielleicht unvorsichtig insofern, als dass sie die Pillen nahm und trotzdem trank, aber sie überdosierte sie nicht. Nicht in dem Maß. Und hatte man ihr nicht auch gesagt, dass sie normalerweise nicht rechtzeitig wach geworden wäre, hätte keine Gewöhnung an den Wirkstoff vorgelegen?
Dann hatte Mòrag wohl doch nichts von dem
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