Das alte Kind
angeklagt und landete wegen Veruntreuung und was nicht noch alles im Gefängnis, aber davon hatte Carla Arnim auch nichts.«
»Und was geschah mit der Tochter?«
»Mit dem alten Kind?«
Ben sah seinen Freund erstaunt an. »Das alte Kind?«
Laurence fuhr langsam an, der Stau schien sich so schnell aufzulösen, wie er entstanden war. »So nannten es alle. Das alte Kind. Weil es doch diese Krankheit hatte. Der Vater nahm es mit, erst nach Salzburg, dann nach London und wo er noch überall gewohnt hat. Anfangs war es bei jeder Konzertreise dabei, nachdem er wieder geheiratet hatte und es ihr gesundheitlich schlechter ging, nahm er sie nur noch zu ausgewählten Auftritten mit. Das Kind war fast so oft in den Zeitungen wie der Vater. Er sagte immer, seine Tochter sei unheimlich musikalisch und er wolle ihr nichts vorenthalten. So oder so ähnlich. Sie starb mit dreizehn. Die Beerdigung fand in London statt und war ein riesiger Medienrummel. In euren Archiven müsste doch einiges zu finden sein.«
»Ich habe im Moment keinen Zugang«, sagte Ben und brachte seinen alten Freund kurz auf den aktuellen Stand: dass er seit einem Jahr nicht mehr wirklich als Journalist arbeitete. Dass er nicht so recht wusste, was er mit sich anfangen sollte. Dass das sowohl beruflich als auch privat galt.
Laurence lachte. »So ist das also, du weißt nicht, wohin dich der Wind weht! Bleib eine Weile bei uns in Berlin, und denk in Ruhe nach. Wir haben genug Platz. Das meine ich ernst.«
Ben schwieg, fand das Angebot aber, wenn er ehrlich zu sich selbst war, sehr verlockend. »Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte er. Sie hatten die Stadtautobahn verlassen, waren eine Allee entlanggefahren und befanden sich nun in einem Wohngebiet mit imposanten weißen Villen aus dem späten 19. Jahrhundert, die von großen, mit alten Bäumen bewachsenen Grundstücken umgeben waren.
»Das ist Dahlem, eine der etwas feineren Gegenden von Berlin.« Laurence zwinkerte ihm zu. »Hier wohnen wir natürlich nicht. Aber ich zeige dir die alte Mannheimer-Villa. Carlas Eltern kauften sie in den fünfziger Jahren, als sie aus den USA zurückkamen. Juden«, erklärte er. »Gerade noch rechtzeitig geflohen. Und später mutig genug gewesen, wieder zurückzukommen.« Laurence hielt an. »Wir sind da.«
Es war das einzige unbewohnte Haus in der Straße. Der Garten wuchs offenbar schon seit Jahrzehnten wild, und Efeu hatte einen kleinen Pavillon und verschiedene Statuen fast überwuchert.
Im hohen Gras entdeckte Ben drei Nebelkrähen. Die Villa war bei Weitem das imposanteste Gebäude in der Straße: ein großzügiger klassizistischer Bau mit sechs Säulen, die die Vorderfront säumten. Auf dem Dach eine ehemals kupferne, jetzt grüne Kuppel, umgeben von einer Dachterrasse. Die Fensterscheiben waren noch intakt.
»Der Makler«, sagte Laurence, der Bens Gedanken erriet, »hat das Grundstück alarmgesichert, damit niemand herumlungert oder etwas kaputtmacht. Aber er wird’s nicht los. Er ist mit dem Preis mehrmals runtergegangen. Ein Bekannter von uns«, erklärte er. »Die Schwulenszene ist in Berlin halbwegs überschaubar.«
Ben ging an dem Zaun entlang zum Nachbarhaus. Perfekt gemähter Rasen, gepflegte Bäume und Sträucher, von ferne Kinderlachen. Schaukel, Sandkasten und Spielzeug.
»Frederik Arnim hätte sich doch um die Villa kümmern können«, sagte er.
Laurence schüttelte den Kopf. »Sie gehörte den Mannheimers. Er hat vor seiner Hochzeit auf Gütertrennung bestanden, aus reinem Stolz. Damals war er ein armer Schlucker, könnte man sagen, und er wollte nicht, dass jeder dachte, er sei nur des Geldes wegen mit Carla zusammen. Aber dann wendete sich das Blatt. Jetzt ist er der mit dem Geld. Und die Villa gehört der Bank. Die Gebäude, in denen das Auktionshaus und die Galerien untergebracht waren, hat man gut, sogar sehr gut verkaufen können. Beste Lage, Ku’damm, gleich nach der Wende, als sich alle auf Berlin stürzten, versilbert. Aber das Wohnhaus…« Er warf einen kurzen Blick auf die Mannheimer-Villa, dann wandte er sich ab. »Komm, die Berlintour hat gerade erst angefangen.«
Eine Viertelstunde später befanden sie sich auf dem berühmten Kurfürstendamm, der Nobeleinkaufsstraße des alten West-Berlins. »Nobel geht es jetzt eher im Osten auf der Friedrichstraße zu. Was du hier siehst, ist fin de siècle, 20. Jahrhundert. Der Dreck an den bröckelnden Fassaden gehört dazu. Aber ich liebe es.« Er bog in eine enge Seitenstraße, an deren
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