Das alte Kind
her? Wirkt irgendwie sehr modern.«
»Das ist nicht Carla.«
»Hey, Schätzchen. Ich bin dank dir so etwas wie ein Carla-Arnim-Experte. Ich sehe sie vor mir, wenn ich die Augen schließe! Wer soll das denn bitte sonst sein?«
Ben zuckte die Schultern. »Ihre verlorene Tochter.«
London, 15. September 1991
Es war ein großes Begräbnis. Ein riesiges eigentlich. Frederik hatte jeden dazu einladen lassen, den er kannte. Und die meisten waren der Einladung gefolgt. Dazu noch unzählige Schaulustige, die von eigens für diesen Tag engagiertem Wachpersonal ferngehalten wurden, aber nicht zu fern. Die Presseleute sollten etwas zum Fotografieren haben. Es war ein großes Begräbnis.
Viele Reden wurden gehalten, er selbst hielt auch eine, sein Agent hatte ihm beim Verfassen geholfen. Das Wetter war perfekt, und die Stelle, die man Fliss zugewiesen hatte, lag malerisch unter Weiden. Die umliegenden Gräber waren wunderschön, genau so, wie Frederik sie liebte: verwitterte Marmorengel, wo man hinschaute. Der Kensal Green Cemetery war einer der zauberhaftesten Flecken der Stadt. Frederik ging hier gerne spazieren. Unzählige Persönlichkeiten lagen hier begraben und nun auch Fliss. Er hatte sich keinen schöneren Ort für sie denken können. Und sie hatte sich Kensal Green schließlich mit ihm zusammen ausgesucht. Wie oft sie hier spazieren gegangen waren, als sie noch alleine laufen konnte. Und später dann hatte er sie im Rollstuhl hier herumgeschoben, und sie hatte gesagt: Ja, Daddy, das ist ein sehr schöner Friedhof, und hier liegt doch auch Wilkie Collins, den ich so gerne mag, und Trollope und Thackeray auch. Sie hatte so gerne gelesen, das liebe Kind, gelesen und Musik gehört. Eine wahre Freude war sie für ihn gewesen, eine echte Bereicherung seines Lebens. Und sie hatte verstanden, dass sie bald sterben würde. Es hatte sie traurig gemacht, aber sie hatte auch immer gesagt: Daddy, mir wird es dann besser gehen, und du musst mir versprechen, dass du immer daran denkst, dass es mir besser geht.
Er wischte sich die Tränen aus den Augen und lächelte tapfer, als die vielen Menschen sich zum Kondolieren an ihm vorbeidrängten. Zuletzt sein Sohn, Junior, zwanzig war er schon und studierte immer noch eifrig Medizin in Oxford, ganz aus der Art geschlagen war er, aber man konnte stolz auf ihn sein, doch, er machte seine Sache gut. Und warum sollte er sich auch im Schatten seines Vaters herumärgern? Besonders jetzt, da Frederik die Weltspitze erobert hatte. Wie sollte da ein Sohn in derselben Branche bestehen? Alle würden sie sagen: Er ist nur hier, weil sein Vater sein Vater ist. Dann doch besser Medizin, das war gut so. Nun also Junior, er warf eine Rose auf den Sarg, die ihm Harriet vorhin mit Nachdruck aufgedrängt hatte. Hoffentlich hatte das keiner gesehen. Dann noch ein Schäufelchen Erde, und jetzt kam er, schüttelte ihm die Hand, sagte: Ich habe einen Abstammungstest machen lassen.
Frederik ließ die Hand seines Sohnes nicht los. Packte sie sogar fester und zog ihn zur Seite, hinter ein anderes Grab, damit keiner ihnen zuhören konnte. Der Junge musste verrückt geworden sein. Was für einen Test, wollte Frederik wissen. Einen Bluttest? Junior zuckte die Schultern.
DNS, sagte er. Eine neue Methode. Hast du noch nie davon gehört? Man kann zweifelsfrei bestimmen, ob man mit einem anderen Menschen verwandt ist. Und Fliss war eindeutig weder deine Tochter noch meine Schwester. Nicht einmal meine Halbschwester. Sie war gar nichts. Eine Fremde.
Für mich war sie alles, sagte Frederik wütend und sah sich hastig um, ob ihnen auch wirklich niemand zuhören konnte. Harriet sah zu den beiden rüber, ein fragender Blick. Frederik schüttelte beruhigend den Kopf. Was wolltest du damit bezwecken?, fragte er seinen Sohn.
Ich wollte wissen, ob Mutter recht hatte, sagte Junior.
Seit wann interessiert dich deine Mutter?, fragte er zornig. Du wolltest nie etwas mit ihr zu tun haben!
Und was hat das damit zu tun, ob sie recht hatte oder nicht? Sein Sohn sah ihn herausfordernd an.
Ich verrate dir mal was über deine Mutter, und hör gut zu. Ihr ging es nie um dich oder Fliss oder wen auch immer. Ihr ging es damals doch nur darum, recht zu haben. Reine Sturheit war es, warum sie sich so aufführte. Verdammte Sturheit! Rechthaberei! Sonst hätte sie sich um dich und um Fliss gekümmert.
Glaubst du wirklich?, fragte sein Sohn.
Und jetzt unterstützt du diesen Wahnsinn auch noch!, grollte Frederik. Was bringt dir das?
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