Das alte Kind
einer riesigen Schöneberger Wohnung, glücklich wie am ersten Tag, wie Laurence Ben versicherte, als er ihn am Flughafen in Schönefeld abholte.
»Die Adresse, die du mir gegeben hast, ist ganz in unserer Nähe. Zwei Minuten zu Fuß. Ich kenne das Haus, Freunde von uns wohnen dort.«
»Und kennst du auch die Frau?«
Laurence nickte. »Nicht persönlich. Aber man weiß über sie Bescheid. Schlimme Geschichte. Nachdem du mir gemailt hast, dass du Carla Arnim treffen willst, habe ich rausgesucht, was ich finden konnte. Ich weiß viel, aber vieles ist auch Gerücht, und ich dachte mir, dass du natürlich Fakten willst. Wie viel weißt du schon über sie?«
»Fang bei null an.«
»Carla Arnim war mal eine echte Größe in der internationalen Kunstszene. Wer bei ihr in den Galerien ausstellte, hatte es geschafft. Sie hat unglaubliche Auktionen an Land gezogen. Ihre Eltern haben natürlich schon mehr als nur den Grundstein gelegt.
Sie hatten bereits weltweit einen exzellenten Ruf. Carla hat dem Ganzen noch, wie soll ich sagen, den letzten Schliff verliehen. Bis diese Sache mit dem Kind passierte.«
Sie fuhren auf der Stadtautobahn durch strahlenden Sonnenschein, vorbei an trägen grauen Gebäuden.
»Die Sache mit dem Kind«, sagte Ben. »Vor gut dreißig Jahren. Was passierte mit Carla?«
Laurence wechselte die Spur, um einen LKW zu überholen, ging dann aber scharf auf die Bremse, weil es sich vor ihm wie aus dem Nichts heraus staute. »Sie kam nicht drüber hinweg, dass ihre Tochter krank war und verbreitete überall die Geschichte, jemand hätte ihr Kind gestohlen und gegen ein anderes getauscht. Vermutlich hatte ihr Mann die Sache ganz gut im Griff, bis sie eines Tages in einem Fernsehmagazin vor laufender Kamera auspackte. Von da an war allen klar, dass der beste Platz für sie die geschlossene Anstalt war. Da konnte sie natürlich nicht ewig bleiben. Sie versuchte immer wieder, die Medien für diese Sache zu gewinnen, aber niemand glaubte ihr, niemand wollte das Risiko eingehen, sich mit ihrer Story zu blamieren. Irgendwann ließ sich ihr Mann dann scheiden, das Sorgerecht für den gemeinsamen Sohn hat man ihr aberkannt. Es hieß, ihr Mann hätte irgendwann verfügen lassen, dass sie keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern und zu ihm haben dürfe, und er drohte auch, jeden zu verklagen, der öffentlich behauptete, seine Tochter sei gar nicht seine Tochter. Carla zog zu ihrer Freundin, einer Fotografin, die damals gerade sehr gut im Geschäft war. Ella Martinek hieß sie.«
»Wieso hieß?«
»Noch eine tragische Geschichte. Seit Carla bei ihr wohnte, fotografierte sie nicht mehr. Keiner weiß, warum. Hätte sie weitergemacht, sie hätte richtig – also richtig – reich und berühmt werden können. Eine echte Tragödie. Nimmt die Verrückte bei sich auf und bekommt von da an nichts mehr geregelt. Und alles nur, weil diese Frau nicht akzeptieren konnte, dass sie ein krankes Kind geboren hatte. 1993 starb sie. Irgendein Unfall.« Laurence schüttelte den Kopf und drückte auf die Hupe. Er grinste, als der Fahrer im Wagen neben ihm empört herübersah. »Die Deutschen hupen eindeutig zu wenig.«
»Ihr wart also wieder in Italien im Urlaub?«
»Wunderschön. Rom, drei Wochen.«
»Mit dem Auto.«
»Sonst macht es nur halb so viel Spaß.« Laurence hupte wieder und winkte dem Fahrer neben ihm zu.
»Carla Arnim, wovon lebt sie jetzt?«
Laurence zuckte die Schultern. »Vielleicht schiebt ihr Exmann immer mal diskret etwas Geld rüber, keine Ahnung. Sie ist im Grunde verarmt. Als sie aus dem Verkehr gezogen wurde, hat man einem ihrer engsten Mitarbeiter, einem Engländer namens Jeremy Bartram, die Leitung der Geschäfte übertragen. Bartram war gut, er hatte eine richtige Spürnase für neue Talente, und er hatte auch ein Händchen fürs Geschäft. Exakt der richtige Mann. Nur leider waren es die Achtziger. Er war unglücklich in einen jungen Künstler aus New York verliebt – ich habe seinen Namen vergessen. Hing mit irgendwelchen Musikern rum. Patti Smith Group und so weiter. Der war schwer heroinabhängig. Und Bartram nach einer Weile auch. Da er sich nicht unter die Stricher der Stadt mischen wollte, holte er sich sein Geld vom Geschäftskonto. Wie gesagt, er hatte ein Händchen fürs Geschäft. Er fälschte die Buchhaltung. Natürlich flog es irgendwann auf, die Banken wollten ihr Geld zurück, Bartram konnte nicht zahlen, Offenbarungseid. Das war das Ende des Hauses Mannheimer. Bartram wurde zwar
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