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Das alte Königreich 01 - Sabriel

Titel: Das alte Königreich 01 - Sabriel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Garth Nix
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schon zu warm werden.
    Geübt schob sie einen Ski nach vorn, während der gegenüberliegende Arm mit dem Stock vorwärts schwang, und glitt dahin, gerade als der letzte Schwertkämpfer zum Tor zurückkehrte. Er grinste im Vorübergehen, doch Sabriel bemerkte es nicht, so sehr war sie damit beschäftigt, den Rhythmus zwischen Skiern und Stöcken zu finden. Nach wenigen Minuten flog sie regelrecht die Straße hinauf, eine schlanke, dunkle Figur, die sich vom Weiß des Bodens abhob.

     

4
    Ungefähr sechs Meilen von der Mauer entfernt entdeckte Sabriel im schwindenden Nachmittagslicht den ersten toten ancelstierrischen Soldaten. Der Hügel, den sie für den Spaltkamm hielt, befand sich ungefähr ein, zwei Meilen nördlich davon. Sie hatte gehalten, um sich die felsige und baumlose, aus dem schneebedeckten Land emporragende dunkle Masse anzuschauen, deren Kuppe soeben unter den hellen, wattigen Wolken verschwunden war, aus denen hin und wieder Schnee oder Schneeregen fiel.
    Hätte Sabriel nicht gehalten, wäre ihr die gefrorene weiße Hand gar nicht aufgefallen, die aus einer Wehe auf der anderen Straßenseite ragte. Doch kaum war ihr Blick darauf gefallen, konzentrierte sie sich und verspürte die bekannte Nähe des Todes.
    Beim Überqueren der Straße scharrten ihre Skier in der Mitte über nackten Stein. Drüben angekommen bückte sie sich und wischte behutsam den Schnee zur Seite.
    Die Hand gehörte einem jungen Mann, der das zur Standardausrüstung für Patrouillen gehörende Kettenhemd über einer ancelstierrischen Uniform aus khakifarbenem Serge trug. Er war blond und grauäugig. Sabriel vermutete, dass er überrascht worden war, denn aus seiner eingefrorenen Miene sprach keine Furcht. Sie tippte mit einem Finger auf seine Stirn, schloss die blicklosen Augen und legte zwei Finger auf den offenen Mund.
    Sie spürte, dass er seit zwölf Tagen tot war. Was ihn getötet hatte, war nicht offensichtlich. Um mehr darüber zu erfahren, müsste sie dem jungen Mann in den Tod folgen. Selbst nach zwölf Tagen war es unwahrscheinlich, dass er weiter als bis zum Vierten Tor gekommen war. Trotzdem wollte sie das Reich der Toten nicht betreten, wenn es nicht unbedingt sein musste. Was immer ihren Vater gefangen – oder getötet – hatte, könnte leicht im Hinterhalt auf sie lauern. Dieser tote Soldat war möglicherweise ein Köder.
    Sabriel unterdrückte ihre natürliche Neugier und faltete die Hände des jungen Mannes auf dessen Brust, nachdem sie die Finger seiner Rechten um den Säbelgriff gelöst hatte. Vielleicht war er doch nicht völlig überrascht worden. Nachdem sie sich aufgerichtet hatte, schrieb sie die Charterzeichen für Feuer, Reinigung, Friede und Schlaf in die Luft über der Leiche und wisperte gleichzeitig die dazugehörigen Laute. Es war eine Litanei, die jeder Charterzauberer kannte, und sie hatte die übliche Wirkung. Ein Funke erhob sich zwischen den gefalteten Armen des Mannes und wurde zu vielen züngelnden Flämmchen. Dann brach die Leiche in ihrer ganzen Länge in Feuer aus, das Sekunden später nur Asche zurückließ – Asche, in der ein Harnisch aus geschwärzten Kettengliedern lag.
    Sabriel zog den Säbel des Soldaten aus dem Aschehaufen und stieß ihn durch den geschmolzenen Schnee in die dunkle Erde darunter. Er blieb aufrecht stecken; der Griff warf einen Schatten wie von einem Kreuz auf die Asche. Irgendetwas funkelte im Schatten, und jetzt erst erinnerte Sabriel sich, dass der Soldat eine Erkennungsmarke getragen haben musste.
    Sie verlagerte ihre Skier wieder, damit sie das Gleichgewicht behielt; dann bückte sie sich und zog die Kette der Marke in die Höhe, um den Namen des Mannes zu erfahren, der hier sein Ende gefunden hatte. Doch sowohl Kette wie Marke waren in Ancelstierre maschinell hergestellt und hatten dem magischen Feuer deshalb nicht standgehalten. Die Marke zerbröckelte zu Asche, als Sabriel sie in Augenhöhe hob, und die Kette zerfiel in ihre einzelnen Glieder, so dass sie wie winzige Stahlmünzen durch Sabriels Finger rannen.
    »Vielleicht werden sie dich an deinem Säbel erkennen«, murmelte Sabriel. Ihre Stimme klang seltsam in der Stille der verschneiten Wildnis, und mit jedem Wort stieß sie ein kleines Dunstwölkchen aus.
    »Reise ohne Bedauern«, fügte sie hinzu. »Blick nicht zurück.«
    Sabriel folgte ihrem eigenen Rat, als sie auf den Skiern weiterfuhr. Eine Unruhe breitete sich in ihr aus, Anzeichen einer Furcht, die bisher eher akademischer Natur gewesen war.

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