Das alte Königreich 01 - Sabriel
Näherkommen feststellte. Und schlimmer noch – wer oder was sie umgebracht hatte, hatte die Köpfe mitgenommen. Das war schon fast ein Versprechen, dass ihre Geister wiederkommen würden.
Ihr Schwert ließ sich leicht ziehen. Vorsichtig stiefelte Sabriel, den Schwertgriff fest gepackt, um die erste Leiche herum auf die Brücke. Das Wasser darunter war teilweise vereist und floss schwerfällig dahin; offensichtlich hatten die Soldaten es zu überqueren und sich dadurch zu retten versucht. Fließendes Wasser war ein guter Schutz vor toten Kreaturen oder Dingen Freier Magie. Doch dieser träge Bach hätte nicht einmal einen der Geringeren Toten abgeschreckt. Im Frühjahr schwoll er gewiss mit Schmelzwasser an; dann würde er zwischen den Felsen dahintosen und dann stand die Brücke sicher knietief in klarem, reißendem Wasser. Zu der Jahreszeit hätten die Soldaten wahrscheinlich überlebt.
Sabriel seufzte, als sie daran dachte, wie leicht sieben Menschen von einem zum anderen Augenblick ihr Leben verlieren konnten – machtlos trotz allem, was sie zu tun vermochten, und entgegen ihrer letzten Hoffnung. Wieder empfand sie als Nekromantin die Versuchung, die Karten, die von der Natur verteilt worden waren, zu ergreifen und neu zu mischen. Sie hatte die Macht, diese Männer wieder leben, lachen und lieben zu lassen…
Doch ohne ihre Köpfe könnte sie die Toten nur als »Hände« zurückbringen – eine abfällige Bezeichnung von Nekromanten der Freien Magie für ihre stumpfsinnigen dienstbaren Geister, denen wenig von ihrer ursprünglichen Intelligenz und gar nichts von ihrem Antrieb geblieben war. Sie gaben allerdings nützliche Dienstboten ab, entweder als wieder belebte Leichen oder, was schwieriger war, als Schattenhände, bei denen nur der Geist zurückgebracht wurde.
Sabriel verzog das Gesicht, als sie daran dachte. Ein geschickter Nekromant konnte mühelos Schattenhände aus den Köpfen der frisch Getöteten schaffen. Andererseits vermochte sie die Letzten Riten ohne die Köpfe nicht durchzuführen und die Geister der Toten zu befreien. So blieb Sabriel nichts anderes übrig, als sie mit einigem Respekt zu behandeln und dabei die Brücke frei zu machen. Die Abenddämmerung war nahe und in den Schatten der Klamm wurde es bereits dunkel, doch Sabriel achtete nicht auf die leise Stimme in ihrem Kopf, die sie drängte, die Leichen liegen zu lassen und zum offenen Berggrat zu laufen.
Bis sie die kopflosen Körper alle ein Stück den Pfad hinuntergezogen und sie samt ihren Säbeln nebeneinander gelegt hatte, war es auch außerhalb der Klamm dunkel – so dunkel, dass sie ein schwaches Licht herbeibeschwören musste, das wie ein bleicher Stern über ihrem Kopf hing und ihr den Weg zeigte, ehe es erlosch.
Es war nur eine unbedeutende Magie gewesen, doch sie zeitigte unerwartete Folgen. Als sie die Leichen hinter sich zurückließ, begann am obersten Brückenpfosten ein gewaltiges Licht aufzuleuchten. Es zerfiel zwar rasch in rote Glut, hinterließ jedoch drei glühende Machtzeichen. Eines war Sabriel unbekannt. Doch die Bedeutung der beiden anderen kannte sie. Zusammen ergaben sie eine Botschaft.
Bei drei der toten Soldaten hatte sie Charterzauber gespürt; deshalb vermutete Sabriel, dass sie Schutzmagier gewesen waren. Sie mussten das Charterzeichen auf ihrer Stirn gehabt haben. Die letzte Leiche auf der Brücke war einer von ihnen gewesen, und Sabriel erinnerte sich, dass er als Einziger keine Waffe gehalten hatte – seine Hände hatten sich um den Brückenpfosten geklammert. Die Spuren enthielten gewiss seine Botschaft.
Sabriel berührte ihr Zeichen auf der Stirn, dann den Brückenpfosten. Die Lichter flammten wieder auf und verloschen. Eine Stimme erklang aus dem Nichts dicht an Sabriels Ohr. Es war eine von panischer Angst erfüllte Männerstimme; im Hintergrund waren Schreie und das Klirren von Waffen zu hören.
»Einer der Größeren Toten! Er hat uns fast von der Mauer aus verfolgt. Wir konnten nicht umkehren. Er hat Diener, Hände, einen Mordicanten! Ich bin Sergeant Gerren. Melden Sie dem Oberst…«
Was immer er Oberst Horyse melden wollte, ging in der Panik unter, die sein eigener Tod mit sich brachte. Sabriel stand still da und lauschte, als käme noch mehr. Ihr war übel und sie atmete ein paarmal tief ein und aus. Sie hatte vergessen, dass sie trotz ihrer Vertrautheit mit dem Tod und mit Toten nie jemanden tatsächlich hatte sterben sehen oder hören. Mit den Nachwirkungen hatte sie umzugehen
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