Das alte Königreich 01 - Sabriel
Jeder ihrer Sinne war hellwach und angespannt. Man hatte ihr stets gesagt, das Alte Königreich sei gefährlich, besonders das Grenzland an der Mauer. Aber dieses Wissen war durch ihre verschwommenen Kindheitserinnerungen an eine glückliche Zeit gedämpft worden, an eine Zeit, als sie mit ihrem Vater die Nomaden begleitet hatte. Jetzt wurde ihr die Wirklichkeit der Gefahr allmählich bewusst…
Nach etwa einer halben Meile nahm sie sich die Zeit, wieder den Spaltkamm zu betrachten. Sie hatte den Kopf weit zurückgelegt, um zu beobachten, wo die Sonne durch die Wolken kam und dem Granitgestein des Hügels einen gelbroten Schein verlieh. Sie selbst befand sich im Wolkenschatten, darum betrachtete sie den Hügel als erfreuliches Ziel. Während sie danach schaute, fing es wieder zu schneien an. Zwei Flocken landeten auf ihrer Stirn, schmolzen und rannen ihr in die Augen. Sie blinzelte und der geschmolzene Schnee folgte den Tränenspuren auf ihren Wangen. Durch verschwommene Augen sah sie einen Raubvogel – einen Falken oder Habicht – von den Felsen aufsteigen und dahinschweben, seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf eine kleine Beute konzentriert, vermutlich eine Maus, die sich durch den Schnee plagte.
Der Greifvogel stieß herab, fiel wie ein Stein vom Himmel. Ein paar Sekunden später spürte Sabriel, wie ein kleines Leben ausgelöscht wurde. Gleichzeitig wurde sie auf den Zug menschlichen Todes aufmerksam. Irgendwo voraus, wo der Vogel fraß, lagen mehrere Leichen.
Sabriel schauderte und blickte wieder auf den Hügel. Nach Horyses Karte führte der Weg zum Spaltkamm durch eine schmale Schlucht zwischen zwei Felsen. Sie sah deutlich, wo der Weg verlaufen musste, aber die Toten lagen in dieser Richtung. Was immer sie getötet hatte, mochte sich noch dort befinden.
Die Sonne schien auf die Felsen, doch der Wind begann Schnee aufzuwirbeln und verschlechterte die Sicht. Sabriel schätzte, dass es nur noch etwa eine Stunde bis zur Dämmerung war. Sie hatte Zeit verloren, als sie den Geist des Soldaten befreit hatte; nun blieb ihr keine Wahl als weiterzueilen, wollte sie den Spaltkamm vor Einbruch der Nacht erreichen.
Sie überlegte einen Augenblick, was voraus liegen mochte, und entschied sich dann zu einem Kompromiss zwischen Eile und Vorsicht. Sie stieß die Stöcke in den Schnee, öffnete die Bindungen, stieg heraus und band rasch Skier und Stöcke so zusammen, dass sie sie diagonal über ihrem Rucksack befestigen konnte, was sie sehr sorgfältig tat, denn sie erinnerte sich, wie ihr die Sachen heruntergefallen waren und ihren Charterspruch auf dem Paradeplatz gebrochen hatten – das war erst an diesem Morgen geschehen, es schien ihr allerdings weit länger zurückzuliegen, in einer anderen Zeit und einer anderen Welt.
Als sie fertig war, stapfte sie vorsichtig auf der Straßenmitte dahin und hielt sich von den Schneewehen am Wegrand fern. Sie würde die Straße bald verlassen müssen, doch es sah aus, als gäbe es wenig Schnee auf den steilen Felshängen des Spaltkamms.
Als abschließende Vorsichtsmaßnahme zog sie Abhorsens Schwert und steckte es so zurück, dass ein guter Zoll der Klinge aus der Scheide schaute. Es würde sich schnell und leicht ziehen lassen, wenn sie es brauchte.
Sabriel rechnete damit, die Leichen auf der Straße oder in der Nähe zu finden, doch sie lagen weiter entfernt. Es gab viele Fußabdrücke und aufgewühlten Schnee, der von der Straße zum Spaltkammpfad führte. Dieser Weg wand sich zwischen den Felsen hindurch. Er folgte einem Wildbach, der von einer tiefen Quelle höher oben herabbrauste. Der Pfad überquerte den Bach mehrmals und bewahrte Reisende durch Steine, die aus dem Wasser ragten, sowie durch Baumstämme, über die man stabile Bretter gelegt hatte, vor nassen Füßen. In halber Höhe, wo die Felsen fast zusammentrafen, hatte der Bach sich eine kurze Klamm gebahnt, etwa zwölf Fuß breit, dreißig Fuß lang und ziemlich tief. An dieser Stelle waren die Wegemacher gezwungen gewesen, eine Brücke entlang dem Bach zu errichten anstatt darüber.
Auf dem dunklen, olivschwarzen Holz der Brücke, unter der das Wasser murmelte und über der das Felsgestein hoch hinaufragte, fand Sabriel den Rest der Patrouille aus Ancelstierre. Es waren sieben Mann, verteilt über die Länge der Brücke. Hier war, anders als beim ersten Soldaten, deutlich zu erkennen, was die Männer getötet hatte. Sie waren in Stücke gehackt und obendrein geköpft worden, wie Sabriel beim vorsichtigen
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