Das alte Königreich 01 - Sabriel
einer nach hinten und zwei schienen in die Schwingen zu gleiten.
Der ganze Papiersegler erstrahlte in einem grellen weißen Licht, hielt abrupt im freien Fall inne und legte sich wieder waagerecht. Sabriel wurde heftig nach vorn geworfen und schlug mit der Nase auf den Silberspiegel, doch zum Glück hielten die Gurte. Ihre Halsmuskeln spannten sich, als sie alle Kraft aufbot, um den Kopf ruhig zu halten.
Trotz dieser plötzlichen Verbesserung ihrer Lage stürzten sie noch immer in die Tiefe. Sabriel hatte die Hände jetzt um ihren heftig schmerzenden Hals geschlungen. Sie sah, wie der Boden ihnen entgegenraste und bald fast den gesamten Horizont füllte. Plötzlich tauchten Baumkronen unter ihnen auf. Der Papiersegler, der von dem seltsamen Licht durchdrungen war, jagte mit einem Geräusch durch die oberen Zweige, das sich anhörte wie das Prasseln von Hagel auf ein Blechdach. Dann fielen sie wieder und segelten in geringer Höhe über ein brachliegendes Feld hinweg. Noch immer waren sie viel zu schnell, um landen zu können, ohne dabei zu zerschellen.
Mogget, oder was immer aus ihm geworden war, bremste den Papiersegler erneut und setzte mehrere Male zur Landung an. Jedes Mal wurde der Segler heftig erschüttert, was Sabriel einen Bluterguss nach dem anderen einbrachte. Doch zum ersten Mal spürte sie erleichtert, dass sie überleben würden. Noch ein Bremsmanöver, und der Papiersegler würde sicher aufgesetzt haben und nur noch ein Stückchen im hohen weichen Gras der Wiese rutschen.
Mogget bremste. Sabriel jubelte, als der Papiersegler sanft den Bauch aufs Gras legte und, wie es schien, zu einer perfekten Landung glitt. Doch Sabriels Jubel wurde zum Schreckensschrei, denn das Gras teilte sich plötzlich und der Rand eines gewaltigen dunklen Loches erschien unmittelbar vor ihnen.
Sie waren jetzt zu niedrig, um noch einmal aufzusteigen, und zu langsam, um über ein Schluckloch von wenigstens fünfzig Schritt Breite zu gleiten. Der Papiersegler erreichte den Rand, kippte darüber und sank in einer Spirallinie zum Grund des Loches, das Hunderte Fuß tief war.
12
Sabriel kam nur langsam wieder zu Bewusstsein. Ihr Gehirn bemühte sich, die Verbindung zu ihren Sinnen aufzunehmen. Das Gehör kehrte als Erstes zurück, doch es nahm nur ihren keuchenden Atem wahr und das Knarren ihrer Rüstung, als sie sich aufzusetzen versuchte. Im Moment vermochte Sabriel nichts zu sehen und geriet in Panik, denn sie hatte Angst, ihr Augenlicht verloren zu haben – bis sie sich erinnerte. Es war Nacht und sie befand sich auf dem Grund einer Grube – eines gewaltigen kreisrunden Schachts, der entweder von der Natur oder durch technische Mittel in den Erdboden gebohrt worden war. Nach dem kurzen Blick, den sie beim Fallen darauf gehabt hatte, schätzte sie einen Durchmesser von wenigstens fünfzig und eine Tiefe von mehr als hundert Metern. Das Tageslicht würde seine trostlose Tiefe wahrscheinlich ein wenig erhellen, doch der Sternenschein konnte das nicht.
Als Nächstes, unmittelbar nach der Erinnerung, kam der Schmerz. Sabriel spürte unzählige Abschürfungen und Prellungen, doch keine ernsthaften Verletzungen. Versuchsweise bewegte sie Zehen und Finger und spannte die Muskeln in Armen, Beinen und Rücken. Zwar tat ihr alles weh, doch nichts schien ernsthaft verletzt zu sein.
Verschwommen erinnerte sie sich der letzten paar Sekunden vor dem Aufschlag – Mogget, oder die blendende Kraft, bremste kurz zuvor ab. Der Aufschlag selbst mochte gar nicht stattgefunden haben, denn Sabriel hatte nicht die geringste Erinnerung daran. Eine Folge des Schocks, überlegte sie nüchtern, beinahe so, als würde sie dabei an jemand anderes denken.
Ihr nächster Gedanke kam erst einige Zeit später – und mit ihm die Erkenntnis, dass sie erneut das Bewusstsein verloren haben musste. Als sie wieder erwachte, fühlte sie sich etwas klarer. Vorsichtig befreite sie sich aus den Sitzgurten und langte hinter sich nach dem Rucksack. In ihrem derzeitigen Zustand wäre ihr sogar ein kleiner Charterzauber unmöglich gewesen, um ein wenig Licht zu schaffen, doch sie hatte immerhin Kerzen und Schwefelhölzer.
Als das Streichholz aufflammte, wurde ihr schwer ums Herz. Im winzigen flackernden Schein sah sie, dass nur ein Teil des Cockpits heil geblieben war. Der Segler selbst war bloß noch der traurige, blaue und silberne Überrest einer einst wunderbaren Schöpfung. Die Schwingen lagen zerrissen und zerdrückt darunter, und das gesamte Bugteil
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