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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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sehr gepflegt und stark geschminkt und manikürt, mehrere Ringe an den Fingern, und diskutierten laut und gestenreich, wobei die Armreife der einen leise klirrten und die andere immer wieder ihre riesige Brille, die an einem goldenen Gliederkettchen um ihren Hals hing, aufsetzte und wieder abnahm. Oben auf der Selbstmörderbrücke standen zwei kleine Jungen, das schmiedeeiserne Gitter mit einer Faust umklammernd, und schossen mit dem hochgereckten Daumen und ausgestreckten Zeigefinger der freien Hand auf die Passanten herab. Der kleine Tempel oben auf dem Fels erinnerte an die Beschwörungen arkadischer Landschaften auf manchen manieristischen Gemälden des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Von fern war ein Zug zu hören, der aus einem Tunnel kam. Cote betrachtete das alte, handbemalte Holzschild Guignol, das über dem Eingang des von Hecken umsäumten Kasperletheaters hing. Aus einem Beet buttergelber englischer Rosen duftete es betäubend. Ein Mann im Anzug und mit langen, grauen Locken blieb, sein Mobiltelefon am Ohr, abrupt mitten auf dem Weg stehen, begann, laut und von hilflosen Gesten der freien Hand unterstützt, zu sprechen. Von Weitem musste er wirken wie ein Irrer, der glaubt, ein Orchester zu dirigieren. Ein junger Araber im Muskelshirt schritt stolz eineinhalb Meter vor seiner
Freundin einher, der die Monoprix-Tüte, die sie trug, den Arm langzog.
    Weshalb mögen Sie diesen Ort hier?, fragte der Amerikaner Hélène. Wie im Falle von Moret-sur-Loing wollte er von ihr hören, was er wahrnahm, als sei er blind und brauche ihre Beschreibung als Ersatz für sein Augenlicht. Hélène dachte lange nach und wandte dabei den Kopf nach links und rechts, als könne die Antwort irgendwo in der Parklandschaft abzulesen sein.
    Schließlich sagte sie zögernd: Es gibt doch sogenannte Phantomschmerzen, bei Amputierten zum Beispiel, denen ein Glied wehtut, das sie gar nicht mehr haben … Nun, vielleicht gibt es dann auch so etwas wie eine Phantomfreude, ein Phantomglück.
    Er sah sie verwundert an und lächelte, ohne dass sie es in ihrer Konzentration bemerkte.
    Ein Glück, das man empfindet, obwohl in einem selbst gar kein Grund dafür vorhanden ist. Etwas, das im Betrachten entsteht. Dessen was ist und was war. Vielleicht ist ja an solchen Orten wie hier die Zeit träger, und die Bilder halten sich länger, und wenn ich hier bin, kann ich noch lange Zeit später ihren Duft riechen.
    Sie unterbrach sich und fügte dann noch hinzu: Es sind Bilder, die wir sagen, nicht ich, und das Glück sagt »einst« und muss es nicht genauer wissen …
    Ich danke Ihnen dafür, mit Ihnen hier sein zu dürfen, Hélène, sagte der Amerikaner. Wissen Sie, ich bin fremd hier. Nicht nur, weil ich Paris nicht kenne. Ich bin fremd hier wie Ethan Edwards in den Searchers, kennen Sie den Film?, der von draußen, von der Wüste her kommt und das Haus seiner Schwägerin betritt, die Zivilisation, und
sich nicht mehr in ihr zurechtfindet. Und ich komme ja tatsächlich aus der Wüste, und jetzt muss ich noch einmal durch sie hindurch …
    Wie war sie eigentlich, die Wüste?, fragte Hélène. Ich meine die Wüste als Wüste. Jenseits des Kriegs. Wenn man das denn trennen kann.
    Jetzt war es der Amerikaner, der nachdachte.
    Am ehesten wie das Meer. Ja, ziemlich genauso wie das Meer. Endlos, ohne Horizont. Auf den ersten Blick leer, aber nur auf den ersten. Auf den ersten Blick eintönig, aber nur auf den ersten. Zugleich auch beängstigend. Wenn man in die Hitze tritt, ist das, als würde ein Mensch mit Fäusten auf einen losgehen. Ein fürchterlicher Angriff, der einen bis ins Mark erschreckt und lähmt. Die Hitze presst dich zusammen wie eine Schraubzwinge, es ist, als würdest du Flammen einatmen. Es ist feindliches Gebiet, und genauso wie auf dem Meer weißt du, dass du alleine rettungslos verloren bist, du verschwindest einfach, als hätte es dich nie gegeben …
    Er sah sie an. Aber ich kann es nicht trennen. Die Wüste, das ist die, durch die wir mit dem Panzer gerast sind, in der wir geschossen haben, durch die die Kinder mit durchtrennten Sehnen gekrochen sind, in der ich diese wunderschönen, elend sterbenden Vögel erlöst habe, wo wir am dritten Tag das Flugfeld von Jalibah zu Klump geschossen und überrollt haben und wo die Toten auf dem Highway 8 lagen, die uns beim Auftanken in die Quere gekommen waren. Ich erinnere mich an einen toten irakischen Soldaten, der in seiner halb verkohlten Uniform auf dem Rücken lag, der Reißverschluss

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