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Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kleeberg
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Bäumen dahinter einen lichtgesprenkelten Hohlweg. Der Amerikaner, dessen Stirn feucht war, bat Hélène verlegen, sich bei ihm unterzuhaken.
    Mir wird sonst schwindlig, sagte er.
    Die Allée des Brouillards sei das versteckte, verschwiegene Privatreich von Gérard de Nerval in Paris gewesen, erklärte Hélène ihre Wahl, oder vielleicht besser von Gérard de Nervals Geist, der hier gewiss noch umgehe. Hatte er hier in diesem schmalen Gässchen gelebt oder sich erhängt, in einer einsamen, kalten Novembernacht, sie wusste es nicht mehr, tendierte aber zur zweiten Hypothese.
    Cotes Unterarm, auf dem Hélènes Hand lag, war unter dem Hemd hart wie ein Buchenast, er hatte große Hände mit langen Fingern und sehr großen, die Fingerkuppen vollständig überwölbenden, kurz geschnittenen Nägeln.
Auch der Oberarm, gegen den Hélène leicht stieß, als der Amerikaner sich bückte, um unter dem Glyzinienvorhang hindurchzuschlüpfen, gab nicht nach, sondern schien aus Hartholz gewachsen. Er musste sich tief bücken, er war groß, Hélène schätzte ihn auf fast einsneunzig. Sein Knöchel war ein wenig rau. Die Armbanduhr mit dem elastischen Stahlband trug er am rechten Handgelenk. Der Handrücken war kaum behaart.
    Hélène erzählte, es sei vor allem ihr Lieblingsgedicht Nervals, El Desdichado aus den Schimären , das sie diesen stillen und ein wenig unheimlichen Ort habe entdecken lassen, dessen Atmosphäre der des Gedichts entspreche.
    Vielleicht, meinte sie lachend, beharre ich auch deshalb darauf, dass er sich hier erhängt hat.
    Sie setzten sich auf eine Bank.
    Gehen Sie aus diesem Grund mit mir hierher, fragte der Amerikaner, weil ich Ihnen erzählt habe, dass ich mich umbringen wollte?
    Hélène sah ihn entsetzt an. Um Gottes willen, nein! Ich wusste nicht - ich gestehe, ich habe nicht nachgedacht … Entschuldigen Sie. Wollen wir wieder zurück?
    Cote lächelte müde. Nein, nein, im Gegensatz zu Nerval ist es ja eben nicht mein Geist, ich bin ja noch in Fleisch und Blut gegenwärtig. Wissen Sie, diese Sache ist peinlich und dumm, aber mehr nicht. Ich glaube, diesen halbherzigen Versuch mit Whisky und Schlaftabletten hat ein kranker Mann gemacht, und er war ein Teil seiner Krankheit. Ich erinnere mich daran wie an einen Albtraum, aber nicht wie an einen bewussten Entschluss. Wenn ich mein Schulwissen noch im Kopf habe, dann kann man Desdichado mit der Unglückliche aber auch
mit der Enterbte übersetzen. Können Sie den Anfang rezitieren?
    Hélène runzelte angestrengt die Stirn: Ich bin der Düstere - der Witwer - der Untröstliche, der Prinz Aquitaniens vom zerborstenen Turm: Mein einziger Stern ist tot - und auf meiner bestirnten Laute lastet die schwarze Sonne der Melancholie . Ich kriege jedes Mal eine Gänsehaut davon.
    Müsste es nicht der Dunkle heißen? Der schwarze Mann? Der Fürst der Finsternis? Oder der Dunkelmann, der Dunkelmann aus der Fremde?, sinnierte der Amerikaner, und im Weitergehen mussten sie vor der Helligkeit des Nachmittags die Augen zusammenkneifen, um dann unter dem Blätterdach einer Blutbuche schräg gegenüber dem verbarrikadierten Château des Brouillards fast in völliger Blindheit und Schwärze zu stehen.
    Sie sprachen über den neuen Präsidenten, den »Wahlbetrüger« Chirac, wie Hélène sagte, der Präsident werden musste, um nicht als Bürgermeister von Paris vor Gericht gestellt zu werden, und über seinen »Handlanger«, den »arroganten und herzlosen Technokraten« Juppé, den frischgebackenen Premierminister. Sie sprachen über Sarajewo und die dreihundert festgeketteten und zur Schau gestellten Geiseln, und Cote zeigte Hélène seine bei der Evokation dieser Geschehnisse feucht gewordenen, rosigen Handflächen.
    Wissen Sie, woran mich das erinnert, ich meine dieses Gefühl, eigentlich dort sein zu müssen, etwas tun zu müssen? Ich war, nachdem ich einige Jahre gerudert hatte und kräftiger geworden war, auch ins Footballteam unserer Schule gewählt worden, obwohl ich ein lausiger Spieler war. Aber ein guter Rammbock eben.
Kurz vor dem entscheidenden Spiel gegen eine Mannschaft, die besser war als wir, musste ich mit Verdacht auf Blinddarmentzündung ins Krankenhaus. Ich weiß noch genau, wie ich halb erleichtert und halb schuldbewusst in meinem Zimmer lag und aus dem Fenster in den blauen Himmel hinaussah, während das Spiel lief. Verstehen Sie, ich hatte Angst davor gehabt, denn die anderen scheuten vor Verletzungen nicht zurück, und hatte nun eine bombensichere

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