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Das Amulett der Pilgerin - Roman

Titel: Das Amulett der Pilgerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Bastian
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musste entsprechend mitspielen. Am schlimmsten waren Männer, die Freude daran hatten, einen anderen Menschen zu quälen. Da war es eigentlich gleichgültig, ob man ein Mann oder eine Frau war. Einen dieser Männer hatte sie als Kind gekannt. Als sie alt genug war, um alles zu begreifen, hatte sie ihm zerbrochenes Glas in seine Hafergrütze gerührt, und er war qualvoll gestorben. Bis zum heutigen Tag bedauerte sie, dass er nicht noch mehr gelitten hatte. Neben der Gefahr, verletzt zu werden, war ihre größte Sorge, schwanger zu werden. Das erste Mal hatte ihr Meister Ives erfolgreich in den Bauch getreten, und sie hatte das Kind verloren. Das zweite Mal hatte eine Engelmacherin es ihr aus dem Bauch gezogen, und sie wäre fast krepiert. Das letzte Mal hatte sie das Kind ausgetragen. Es war ein kleines rosafarbenes Würmchen gewesen, ein Mädchen. Sie hatte für das Kind nicht einmal einen Namen ausgesucht, sondern es gleich fortgegeben. Das war die schwerste Entscheidung ihres Lebens gewesen. Ein halbes Jahr später hatte sie gehört, dass es an einer Infektion gestorben war. Sie würde niemals wieder ein Kind austragen und weggeben, lieber im Hinterzimmer einer Engelmacherin sterben.
    Unter dem Johlen seiner Kameraden wurde der Glatzkopf schließlich fertig. Er keuchte.
    »Ich bin dran«, grunzte der Mann, dem sie das Messer an die Kehle gehalten hatte.
    »Wir haben keine Zeit. Los, fessle sie und bring sie zu dem anderen.«
    Der Mann murrte, zog Viviana vom Tisch und fesselte ihr die Hände.
    »Ich hätte es dir schön besorgt, du Schlampe«, flüsterte er in ihr Ohr und stieß sie in die Ecke, in der Julian lag. Die Männer verließen die Gaststube und verriegelten die Tür von außen.
    Kaum waren die Männer verschwunden, zerrte Viviana an ihren Fesseln. Sie konnte das Seil ein Stück nach oben schieben und beugte sich mit erstaunlicher Gelenkigkeit nach vorn, zu ihren halbhohen Stiefeln. Mit den Zähnen gelang es ihr, einen schmalen Metallstift aus einem Etui an ihrem Knöchel herauszuziehen. Sie ließ ihn fallen, griff den Metallstab mit den Händen und rammte ihn in den Fußboden. Dann begann sie, das Seil an ihren Händen durchzusägen.
    Julian betrachtete Viviana mit benebeltem Blick. Er hatte das Johlen der Männer gehört, und obwohl er begriffen hatte, was geschehen war, versuchten seine Gedanken noch die Bedeutung dessen zu erfassen. Er musste sich zunächst darauf konzentrieren, nicht wieder ohnmächtig zu werden. Vivianas Gesichtsausdruck war verschlossen. Verbissen arbeitete sie an dem Seil. Julians Arm brannte wie Feuer, und sein Kopf schmerzte, als wolle er zerspringen. Er fühlte sich so schwach, dass er sich nicht mal bewegen konnte. Mit unendlicher Langsamkeit schienen seine Sinne ihren Dienst wieder aufzunehmen. Er hatte seinen Hinterkopf noch nicht abgetastet und betete zu Gott, dass der Mann ihm kein Loch in den Schädel geschlagen hatte. Plötzlich stieg ihm Rauch in die Nase. Die Angreifer hatten das Haus angezündet! Draußen hörte er die Pferde ängstlich wiehern. Julian versuchte sich aufzurichten, aber sofort verschwamm alles um ihn herum. Ihm kam der Gedanke, dass ihn diesmal sein Glück tatsächlich verlassen hatte. Wahrlich, auch er würde seinen dreißigsten Geburtstag nicht erleben, dachte er und konnte sich nicht erklären, warum er das so komisch fand.
    »Hoch mit dir, Julian!« Viviana hatte sich befreit und zerrte an seinem gesunden Arm. Er versuchte auf die Füße zu kommen, aber seine Beine gaben nach.
    »Los, reiß dich zusammen!« Es gelang Viviana, Julians Arm über ihre Schultern zu legen und ihn in Richtung Tür zu schleifen. Sie ließ ihn wieder zu Boden gleiten, und er erbrach sich. Die Tür war verrammelt. Viviana rannte in die Küche, aber auch die Tür zum Stall war verschlossen. Über der Tür war ein schmales Fenster, das als Abzugsschacht diente. Viviana schob einen Stuhl darunter und zog sich an der unteren Kante hoch. Das Wandmaterial, Lehm und Stroh, bröckelte ab, und sie wäre fast nach hinten gefallen. Kurz entschlossen nahm sie den Stuhl und schlug mit aller Kraft gegen die Wand, die nachgab. Die Küche füllte sich mit Rauch. In wütender Verzweiflung vergrößerte sie das Loch in der Wand und zwängte sich hindurch. Aus dem Stall hörte sie die Pferde aufgeregt wiehern. Das Dach brannte lichterloh, und sie konnte die Menschen von draußen nach Wasser schreien hören. Die Angreifer hatten die Pferdetränke umgeworfen und vor die Tür geschoben. Viviana

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