Das Amulett der Pilgerin - Roman
Wenn ihr Leben kein steter Kampf ums Überleben gewesen wäre? Sie wäre seine Viviana geworden.
»Was?«
»Nichts.«
»Du hast mich so merkwürdig angesehen.«
Julian schüttelte den Kopf. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, das er nicht deuten konnte.
»Ich weiß, was du denkst.«
»So, was denke ich denn?«
»Du denkst, wie schade es ist, dass ich eine so skrupellose Verbrecherin bin.«
Er antwortete nicht, und Viviana fuhr fort: »Du denkst, was für ein nettes Mädchen ich hätte werden können, wenn die Umstände anders gewesen wären.« Sie beugte sich vor und blickte in seine Augen. »Aber täusch dich nicht, Julian, die Umstände waren nicht anders.«
»Ein gut gemeinter Rat?«
Viviana lächelte.
»Unter Freunden.«
Sie warteten, bis es Essenszeit und noch eine halbe Stunde zur Abendmesse war. Die Kirche war leer bis auf einen Greis, der in der letzten Reihe während seines Gebets eingenickt war. Sie gingen zu dem Holzaltar, und Julian stieg ohne weitere Umstände über die Absperrung. Viviana tat es ihm gleich, und sie blickten hinter die bemalte Holzwand. Das Licht im Kirchenschiff, das aus den Oberlichtern hereinfiel, war zu dieser Zeit spärlich, und sie konnten nichts erkennen. Eilig tasteten sie suchend nach der Liste. Vivianas Finger stießen an etwas Hartes, Rundes. Sie griff in dem Moment zu, als Julians Finger sich am anderen Ende darum schlossen.
»Lass los!«, zischte Viviana und zog an der Rolle. Von draußen hörten sie Stimmen. Mit einem Ruck riss sie die Liste an sich und schob sie in die tiefe Tasche, die in ihrem Kleid verborgen war. Gerade noch rechtzeitig stiegen sie wieder über die Absperrung, um gleichmütig das ihnen entgegenkommende Ehepaar zu grüßen und hinauszugehen.
»Das war einfach«, sagte Viviana, als sie gemeinsam eilig die Straße entlangliefen. Julian zog sie hinter die Hecke eines angrenzenden Gartens.
»Lass mal sehen.«
Viviana holte die lederne Pergamenthülle aus der Tasche, behielt sie aber in der Hand.
»Was? Glaubst du, ich würde damit türmen, Viviana?«, fragte Julian ungeduldig. »Dann hätte ich ja wohl schnell eines deiner Messer im Rücken.«
»So ist es.« Sie ließ sich die Rolle aus der Hand nehmen. Julian untersuchte die unscheinbare Lederhülle. Die Knoten der Schnüre waren unter einem dicken Klecks Siegellack verborgen. Er betrachtete das Siegel, das ein Kreuz zeigte.
Julian seufzte.
»Ich dachte, das Erkennungsmerkmal wären sechs Punkte in einem Kreis?«
Viviana schüttelte den Kopf.
»Nein, das war nur das Zeichen für mich.«
Julian wollte sie fragen, warum und woher sie diese Tätowierung hatte, aber es würde sicher eine wenig erfreuliche Geschichte sein, und so ließ er es bleiben.
Viviana betrachtete die Pergamentrolle in Julians Hand.
»Du hast ja jetzt die Liste. Also kann ich gehen«, stellte sie fest.
»Nicht so voreilig. Wir hatten eine Übergabe abgemacht.«
»Glaubst du wirklich, dass die noch auf mich warten und denken, ich habe mich bloß ein bisschen verspätet?«
Ja, es war unwahrscheinlich, dass die Geheime Kanzlei die Verräter jetzt noch überraschen könnte, dachte Julian. Wahrscheinlich musste sich der Kardinal einfach mit der Liste zufriedengeben.
»Das kann ich nicht allein entscheiden.«
»Schon gar nicht, da du doch von der Sache abgezogen worden bist«, neckte ihn Viviana.
Julian machte ein säuerliches Gesicht.
»Am besten, wir gehen zurück in die Stadt, und ich werde mit der Kanzlei Kontakt aufnehmen und herausfinden, was sie zu tun gedenken.«
Viviana streckte die Hand aus. Julian zögerte.
»Solange diese Sache nicht abgeschlossen ist, ist die Liste mein Trumpf, das wirst du verstehen.«
Julian gab Viviana die Rolle zurück, die wieder in ihrer Tasche verschwand.
»Ich bin müde und hungrig«, bemerkte Julian, als sie durch die schmale Toreinfahrt zu Berts Gasthaus gingen. Viviana hatte ihn auf dem Heimritt mehrmals forschend von der Seite betrachtet. Er sah blass und angestrengt aus. Für solch eine tiefe Wunde war zu viel Bewegung Gift. Zerknirscht dachte sie daran, dass sie ihn auch noch verführt hatte.
»Ich auch, hoffentlich gibt es was Gutes«, stimmte sie ihm zu.
Julian betrat den Gastraum, und Viviana ging über den Hof, zu ihrer über dem Stall gelegenen Schlafkammer.
»Wir müssen auch deinen Arm neu verbinden«, rief sie über die Schulter und verschwand die Treppe hinauf.
»Bert?«
Julian hörte in der Küche ein Geräusch.
»Bert?« Er durchquerte den
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