Das Amulett der Pilgerin - Roman
versuchte sie wegzuschieben, aber sie ließ sich nicht bewegen. Ohne weitere Zeit zu verlieren, rannte sie zum Tor und stieß es auf.
»Hilfe, Hilfe, jemand ist im Haus eingesperrt!«
Die Straße wimmelte von Leuten mit Wassereimern, die die benachbarten Dächer begossen. Zwei Männer ließen ihre Eimer fallen und rannten mit Viviana in den Hof. Während sie den ausgehöhlten Holzstamm, der als Tränke diente, zur Seite schoben, holte Viviana die Pferde aus dem Stall. Augenblicke später brach das Dach funkensprühend in sich zusammen. Die Helfer stießen die Tür zur Gaststube auf, und Julian kam aus dem Raum getaumelt. Viviana griff nach seinem Arm.
»Wir müssen sofort verschwinden, Julian.«
Menschen drängten sich im Hof und versuchten das Feuer zu löschen. Wenn es erst einmal auf die Nachbarhäuser übergegriffen hatte, dann war alles verloren. In diesem heißen Sommer waren die Strohdächer und Holzbalken der dicht an dicht gebauten Häuser ungewöhnlich trocken, und in kurzer Zeit könnte die gesamte Stadt brennen. Viviana hatte alle Hände voll damit zu tun, die Pferde zurückzuhalten, die ängstlich aus dem Hof drängten. Julian hievte sich mit Hilfe der erhöhten Tränke auf das Pferd, und einen Moment später galoppierten sie aus dem Hof hinaus und zwischen den Menschen hindurch die Straße hinunter.
Zwei Häuserblocks weiter hatte Viviana Julian eingeholt, griff nach dem Zügel seines Pferdes und lenkte die Tiere aus der Stadt hinaus. Wenig später fand Viviana einen Unterstand für Vieh, der im Sommer nicht genutzt wurde. Sie half Julian vom Pferd, der erschöpft ins Stroh fiel.
»Lass mich sehen, Julian.« Sie drehte ihn auf die Seite und untersuchte seinen Hinterkopf. Ihre Finger tasteten die Haut unter den blutverschmierten Haaren ab, aber der Knochen schien intakt zu sein.
»Ich kann kein Loch fühlen.«
Mit einem Seufzer der Erleichterung rollte sich Julian wieder auf den Rücken, nur um einen Augenblick später vor Schmerzen aufzustöhnen, als Viviana seinen Arm untersuchte.
»Ich hole Wasser. Du musst versuchen, wach zu bleiben.«
Sein Blick war verschwommen, und das Hämmern in seinem Kopf war kaum auszuhalten. Sie waren entkommen und noch am Leben! Was war jetzt zu tun? Sie hatten die Liste verloren, aber an wen? Woher wusste der Glatzkopf von Julians geheimem Aufenthaltsort? Man musste sie beobachtet haben, aber wann? Es hatte keinen Zweck, in seinem Kopf drehte sich alles. Er musste sich ausruhen, nur eine Weile. Julian schloss erschöpft die Augen.
Die östliche Seite der Weide, auf der sich der Unterstand befand, fiel leicht ab und endete an einem kleinen Fluss, der an dieser Stelle zu einem tiefen Graben ausgehoben worden war. Auf der anderen Seite des Flusses lagen die Gemüsegärten einer Reihe von bescheidenen Katen der unfreien Arbeiter, von denen die meisten im Dienst der Abtei standen. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und die Schatten wurden länger. Viviana watete in das Wasser, das ihr bis zur Taille reichte. Wie betäubt stand sie in der Mitte des Wasserlaufs und spürte die Strömung. Sie zerrte an ihrem Kleid und wusch alles weg, was sie beschmutzt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie im Wasser gestanden hatte, als Rufe sie aufschreckten. Eine Mutter rief ihre Kinder ins Haus, es war Zeit, ins Bett zu gehen. Viviana blickte zum Abendhimmel empor. Für einen winzigen Moment fühlte sie sich völlig verloren. Selbst Gott hatte sie verlassen. Sie war allein. Wütend drängte sie das Gefühl wieder zurück in die Tiefe, aus der es hervorgebrochen war, kletterte das gegenüberliegende Ufer hinauf und spähte vorsichtig in den Garten. Sie entdeckte einen Holzeimer, der vermutlich zum Gießen benutzt wurde, und eine lange Reihe Rüben. Viviana zog zwei aus der Erde, nahm den Eimer und machte sich auf den Rückweg. Einen Moment verharrte sie wieder in der Mitte des Flusses und schloss die Augen. Den Eimer und die Rüben an sich gepresst, sank sie auf die Knie. Das Wasser floss über sie hinweg. Es war kühl und dunkel und irgendwie tröstlich. Nach Luft japsend, kam sie wieder an die Oberfläche. Sie konnte Julian nicht so lange allein lassen. Dieser Gedanke trieb sie schließlich zur Eile an.
Ein scharfer Schmerz weckte Julian. Viviana hatte ihm den angetrockneten Verband von der Wunde gelöst.
»Ich habe doch gesagt, du sollst wach bleiben!«, herrschte sie ihn an.
Julian antwortete nicht. Das Hämmern in seinem Kopf hatte nachgelassen, und auch sein Blick war nicht
Weitere Kostenlose Bücher