Das Amulett der Pilgerin - Roman
die Art und Weise, wie sie es getan hatte, hatte ihn verwundert, ja, fast erschüttert.
Als sie Haxwell erreichten, war es schon spät. Nur noch wenig Licht drang durch die geschlossenen Läden auf die Straße, aber eine Laterne brannte vor dem einzigen Gasthof. Julian stieg mühsam vom Sattel und fing Viviana auf, die ihm förmlich entgegenfiel. Ein energisches Klopfen an der Tür rief den Wirt herbei, und sein erstaunter Aufschrei und das darauf folgende Lamento alle anderen Gäste ebenfalls. Sie wurden in die niedrige Gaststube geschoben und an einen Tisch gesetzt. Julian berichtete knapp von dem Überfall und bat dann um heißes Wasser und Leinenstreifen und ein Bad für Viviana. Außerdem wollte er wissen, was es zum Abendessen gäbe, und Wein bräuchte er auf der Stelle. Um dem Ganzen den nötigen Nachdruck zu verleihen, legte er mit einem satten Geräusch seinen Geldbeutel auf den Tisch. Der Wirt stürmte in die Küche, um das Mädchen zu wecken und dem Gast das Gewünschte zu bringen. Ein paar arme Seelen, die überfallen worden waren, hätte er sicher nicht abgewiesen, aber bei zahlenden Gästen war er deutlich zuvorkommender.
Viviana hatte die Augen geschlossen und hielt die Luft an. Sie spürte, wie ihre Haare im Wasser um sie herumschwebten. Sie blieb so lange in dem Badezuber untergetaucht, bis sie es nicht mehr aushielt und nach Luft ringend wieder hochkam. Nach ein paar Atemzügen tauchte sie wieder ab. Sie fühlte eine Beklemmung in sich aufsteigen, die immer größer wurde, sodass Viviana sie schließlich kaum noch aushalten konnte. Hier unter Wasser lauerte etwas auf sie. Etwas Verborgenes, es war ganz nah, und doch konnte sie es nicht erreichen. Sie wollte wissen, was es war, aber sie hatte Angst, große Angst. Sie hatte einen Menschen ermordet, ohne zu zögern hatte sie getan, was sie tun musste. Sie hatte dem Mann die Kehle durchgeschnitten. Viviana tauchte prustend wieder auf und ergriff das winzige Stück grober Seife, das neben ihr auf einem Hocker lag. Wieder spürte sie sein warmes Blut über ihre Hände rinnen. Erneut wusch sie sich die Hände, aber das Gefühl verschwand nicht. Schließlich ließ sie ihre Hände wieder in das inzwischen lauwarme Wasser sinken. Sie hatte Julian retten müssen, Gott würde das verstehen.
Nachdem sie sich abgetrocknet hatte und in ihr Unterkleid geschlüpft war, wickelte sie sich in den großen Wollumhang der Wirtin und ging hinaus in die Gaststube. Das Mädchen würde Vivianas Kleid in dem Badewasser einweichen, aber dass sich die Blutflecken herauswaschen ließen, hielt sie für unwahrscheinlich.
Julian saß mit einem Becher Wein am Feuer. Er hatte seine Wunden verbunden, aber er sah arg mitgenommen aus. Die Platzwunde über der Augenbraue würde eine Narbe hinterlassen, und seine linke Hand war verbunden.
»Wie fühlst du dich?«, fragte sie und legte besorgt ihre Hand auf seine. Er drückte kurz ihre Finger und lächelte sie an.
»Ich lebe noch. Und wie geht es dir?«
»Ich lebe auch noch. Hoffentlich ist Rinaldo nichts passiert. Hätten wir nicht nach ihm suchen müssen?«
»Wir waren beide nicht in der Verfassung, nach ihm zu suchen, Viviana. Du darfst dir keine Vorwürfe machen.«
»Aber wenn er irgendwo verletzt liegt?«
»Wenn er in der Nähe gelegen hätte, hätte er mein Pfeifen gehört und sich zu erkennen geben können. Vermutlich aber hat er das einzig Richtige getan, sich in den Wald geschlagen und sich versteckt.« Julian reichte Viviana einen Becher mit warmem Gewürzwein. »Unter den Toten auf der Straße war er nicht. Wir müssen also noch nicht das Schlimmste annehmen.«
Viviana blickte sich um. Die übrigen Gäste waren vom Wirt auf die andere Seite des Schankraumes beordert worden, um die Fremden nicht zu stören. Jetzt saßen sie dort und starrten Viviana an. Sie wandte sich schnell wieder Julian zu. Er war ihrem Blick gefolgt.
»Natürlich sind sie sehr neugierig.« Er zuckte mit den Schultern.
»Morgen werde ich mit einigen von ihnen zurückreiten und die Sache bei Tageslicht begutachten. Hoffentlich finden wir dann auch eine Spur von Rinaldo.«
Viviana nickte, blickte einen Moment unschlüssig vor sich hin und schaute dann in Julians Augen.
»Ich bin nicht Rinaldos Schwester.«
»Das dachte ich mir.«
»Das dachtest du dir?«
»Ja, er hat dich wie eine gleichberechtigte Person behandelt, nicht wie seine Schwester, für die er verantwortlich ist.«
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Warum sollte ich? Es ist ja
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