Das Amulett der Pilgerin - Roman
vielleicht in die entgegengesetzte Richtung geflohen. Was machen wir jetzt?«
Die Männer hatten die Toten geborgen, alles eingesammelt, was sich noch verwenden ließ, und auch Zaumzeug, Sattel und Gepäck von Rinaldos Maultier geholt und waren im Begriff, zurück nach Haxwell zu reiten.
»Ich würde gerne zuerst ins Dorf zurückkehren und noch einmal alles gründlich durchsehen, was wir gefunden haben.« Julian blickte den Männern mit den Eselskarren nach. Er musste sicherstellen, dass er die Gelegenheit bekam, tatsächlich alles zu untersuchen, was da war. Wenn er jetzt erst nach Rinaldo suchte, konnte es leicht sein, dass das eine oder andere Stück bereits einen neuen Besitzer gefunden hatte, ehe er zurück im Dorf war.
»Ich bin mir sicher, dass, wenn Rinaldo in der Nähe ist, er von den anderen gefunden werden wird.« Julian nickte zu den Dörflern, die zurückgeblieben waren und weiter im Wald nach den restlichen Leichen suchten. Immerhin gab es möglicherweise noch Schmuck, Waffen oder Geldbörsen zu ergattern.
Die Leichen wurden in der Scheune des Gasthauses aufgebahrt. Man hatte die Männer untersucht und alle ihre Habseligkeiten auf einen der provisorischen Tische gelegt. Wie Julian schon festgestellt hatte, passte zumindest einer der Angreifer nicht in die Gruppe der Räuber, die, nach ihrem Äußeren zu urteilen, die Art von Schurken waren, die Reisenden im Wald auflauerten. Dies war kein gewöhnlicher Raubüberfall. Es sah vielmehr so aus, als wenn jemand diese Männer angeheuert hätte, um gezielt ihre Reisegruppe zu überfallen. Sie hatten nichts bei sich, womit man sie hätte identifizieren können. Keiner der Dorfbewohner hatte sie je zuvor gesehen. Julian überlegte kurz, ob es sich lohnen würde, die Leichen nach Exeter zu bringen und den Sheriff einen Blick darauf werfen zu lassen. Aber bei diesen Temperaturen wäre es eine sehr unangenehme Angelegenheit, und überhaupt wollte er auch nicht zu viel Aufmerksamkeit auf die Sache lenken. Nein, besser, man verscharrte sie einfach hier, und Julian würde einen Bericht an den Kardinal schicken. Er ging zu den Dörflern hinüber, um zu besprechen, was zu geschehen hatte. Viviana trat an den Leichnam des Mannes heran, dem sie die Kehle durchgeschnitten hatte. Sie schlug das Tuch zurück und blickte ihn an. Es war seltsam, sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, es wirklich getan zu haben. Hoffentlich würde Gott ihr vergeben. Viviana faltete die Hände und sprach ein Gebet.
»Du hast mir das Leben gerettet.«
Sie schaute sich um und sah in Julians Augen.
»Ich habe mich noch nicht einmal bedankt.«
Viviana blickte wieder auf das stille Gesicht des Unbekannten.
»Ich kann mir gar nicht erklären, was in mich gefahren ist.«
»Unter ungewöhnlichen Bedingungen können Menschen manchmal die unglaublichsten Sachen machen.«
»Wie einem Menschen von hinten die Kehle durchzuschneiden?«
»Genau.«
Viviana schüttelte den Kopf.
»Es tut mir leid, aber ich hatte keine andere Wahl.«
»Es braucht dir nicht leidzutun. Er hat kein Mitleid verdient.«
»Vielleicht tut es mir auch nur leid, dass ich jetzt Blut an meinen Händen habe«, sagte Viviana nachdenklich.
»Sie haben uns angegriffen, und wir mussten uns verteidigen.«
»Ich weiß, aber es fühlt sich an, als hätte ich vor Gott meine Unschuld verloren.«
Julian schwieg. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er erinnerte sich daran, wie er das erste Mal einem Menschen das Leben genommen hatte. Er war auch angegriffen worden und hatte sich verteidigt. Er hatte kein Bedauern empfunden. Jemanden im Kampf zu töten war etwas anderes, als jemanden zu ermorden. Es hatte Aufträge gegeben, bei denen ein Feind getötet werden musste. Diese Dinge geschahen zur Sicherheit des Königs und des Reiches, und doch hatte er bei solchen Aufträgen Gewissensbisse. Beichten konnte man diese Erlebnisse auch nicht, weil sie unter die allerstrengste Geheimhaltung fielen. Natürlich gab es Beichtväter in Westminster, die wussten, wie Politik wirklich gemacht wurde, aber Julian ging lieber auf Nummer sicher. Wahrscheinlich hatte er seinen Platz im Himmelreich sowieso schon verspielt. Julian zog das Laken wieder über den Toten.
»Den wird keiner vermissen.«
Viviana folgte Julian aus der Scheune ins Freie. Es war inzwischen später Vormittag, und sie setzten sich an den Holztisch, der im Schatten der alten Buche vor dem Gasthaus stand. Julian legte den ledernen Beutel, den er dem Räuber vom Gürtel
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