Das Amulett der Pilgerin - Roman
wie Rinaldo annahm, und hatte er mit ihnen reisen wollen, damit er nicht allein irgendwelchen Verfolgern ausgesetzt war? Andererseits war er sicherlich der Wehrhafteste von ihnen. Trotzdem war er mit zwei Zeugen sicherer als allein. Widerwillig dachte Viviana an Rinaldo, über den sie eigentlich fast noch weniger wusste als über Julian. Andererseits hatten alle seine Taten auf ein ehrenhaftes, großzügiges Herz schließen lassen. Nein, auch wenn sie kaum etwas über ihn wusste, konnte sie ihm vertrauen. Aber konnte sie Julian vertrauen? Viviana wollte ihm gerne vertrauen. Sie dachte an ihren Kuss beim Bach, und ein heißes Kribbeln durchlief sie. Es war ein wunderbarer Kuss gewesen. Mehrmals hatte sie heute das Bedürfnis gehabt, ihn in ihre Geschichte einzuweihen. Sie waren in so kurzer Zeit so vertraut miteinander geworden, als wenn sie sich schon ewig kennen würden. Es war nur natürlich, dass sie ihre Gedanken mit ihm teilen wollte. Aber Rinaldo hatte ihr ernsthaft davon abgeraten, und sie war sich sicher, dass er nur ihr Wohl im Sinn gehabt hatte. Sie konnte nichts anderes tun als abwarten. Viviana betrachtete die aufrechte Gestalt, die vor ihr ritt, und sie fragte sich erneut, ob Julians Herz bereits einer anderen Frau gehörte. Selbst wenn dem nicht so wäre, was wäre dann gewonnen? Sie wusste ja nicht einmal, ob nicht irgendwo eine Familie auf sie wartete. Wann würde sie endlich ihr Gedächtnis wiedererlangen?
Julian hatte geplant, in der kleinen Ortschaft Haxwell zu übernachten. So wie es jetzt aussah, würden sie das Gasthaus jedoch nicht vor Einbruch der Dunkelheit erreichen. Was zunächst ein Ritt durch einen lauschigen Sommerabend gewesen war, stellte jetzt ein unnötiges Risiko dar, das er leicht hätte vermeiden können. Er hatte sich treiben lassen, als machte er einen Sonntagsausflug. Julian ärgerte sich über sich selbst. Nun stand die Sonne schon tief, und zu allem Übel endete die Strecke, die abgeholzt worden war, dort hinten, und der Wald stieß direkt an die Straße. Missgelaunt trieb er seinen Fuchs an. Er würde von Haxwell eine Nachricht nach Westminster schicken, er brauchte Unterstützung, denn ab Reading würde es schwierig werden, Rinaldo weiter zu folgen.
Die Sonne ging langsam unter, und das Summen der Bienen am Straßenrand verstummte. Die Straße lag jetzt vollständig im Schatten der Bäume, und der Himmel über ihnen zeigte ein unwirkliches Abendrot, das nach einiger Zeit von einem Grau und schließlich von dem Schwarz der Nacht abgelöst wurde. Julians Pferd folgte dem ebenen Untergrund der Straße, die – kaum zu erkennen – vor ihnen lag, bis endlich der Mond aufgegangen war und man wieder besser sehen konnte.
»Ist es noch weit?«, fragte Viviana leise hinter ihm.
»Nein, wir müssten bald da sein.«
Natürlich wusste jeder von ihnen, dass der seltsame Dieb mit oder ohne Komplizen ihnen hier im Wald auflauern könnte. Er hätte alle Vorteile auf seiner Seite, sicher verborgen hinter den Bäumen, während sie gut sichtbar im Mondlicht auf der Straße ritten.
Plötzlich stellte Julians Pferd die Ohren auf. Noch ehe er reagieren konnte, traf ihn etwas Hartes schmerzhaft an der Schulter, und er stürzte aus dem Sattel. Er hörte, wie Viviana erschreckt aufschrie.
»Von den Pferden und in Deckung!«, rief Julian und rappelte sich auf, das Schwert in der Hand. Von beiden Seiten kamen Männer aus dem Wald gestürmt. Dem ersten Räuber rammte Julian sein Schwert in den Bauch, noch ehe er seine Keule heben konnte. Die Axt des nächsten verfehlte ihn nur knapp, und er stand zwei Angreifern gleichzeitig gegenüber. Während er versuchte, beide in Schach zu halten, hörte er das panische Wiehern von Rinaldos Maultier und Geräusche von Füßen und Hufen und Metall, das auf Metall schlug. Ein Schlag traf Julian am Kopf, sodass er zu Boden ging. Blut rann über seine Stirn. Vor seinen Augen war für einen Moment lang alles verschwommen, dann bemerkte er, wie im Mondlicht Metall aufleuchtete, das auf ihn niedersauste. Er wirbelte herum, packte blitzschnell den hölzernen Griff des Speers, zog den überraschten Angreifer mit einem Ruck zu sich und hieb ihm mit dem Schwert in die Kniekehlen. Schreiend fiel dieser zu Boden. Julian sprang auf und drehte sich mit dem Schwert einmal um die eigene Achse. Er war benommen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Der mächtige Axthieb, der auf seine Klinge traf, schleuderte seine Waffe auf die Straße. Julian zog seinen Dolch und
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