Das Amulett von Gan (German Edition)
unserer Familie. Eines Tages aber war es verschwunden. Seit über zwanzig Jahren habe ich es nicht mehr gesehen. Es war nirgends aufzufinden. Bis jetzt.«
»Dann gehört es also dir?«, fragte Finn und wollte es gleich seinem Großvater in die Hand geben. Der aber wich zurück und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. »Nein, Finn. Das Amulett gehört jetzt dir, denn es hat dich gefunden. Du bist jetzt der Träger des Amuletts.«
»Häh?« Finn schaute verwirrt seinen Großvater an. Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Wie kann denn ein Amulett mich finden? Es war doch in der Kommode festgeklemmt.«
»Das Amulett sucht sich seinen Träger selbst aus. Wenn wir es einem Menschen geben wollen, der gar nicht dazu berufen ist, sein Träger zu sein, kann das ungut enden.«
Der Großvater sprach diese Worte ganz in sich gekehrt. Er schien mit den Tränen zu kämpfen. »Nimm es«, sagte er. »Es ist deins.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ eilig den ehemaligen Stall. Finn stand ratlos da und schaute auf den steinernen Gegenstand, der warm in seiner Hand lag.
Den ganzen Tag über versuchte er, sich selbst zu beschäftigen, schaute nach den Tieren, die er in Frankfurt so sehr vermisste, oder lief zum Deich, um die herannahende Flut zu betrachten. Aber seine Gedanken waren immerzu bei dem Gespräch im Stall und dem steinernen Amulett. Was sollte das Gerede, er sei jetzt der Träger des Amulettes? Am liebsten hätte er den Großvater gefragt, aber der war seit ihrer Begegnung im Stall wie vom Erdboden verschluckt. Nur zum Mittagessen war er kurz aufgetaucht und dann sofort wieder verschwunden. Das war so gar nicht seine Art. Großmutter und den Eltern, die mittlerweile zurückgekehrt waren, zeigte er seinen Fund lieber nicht. Wer weiß, was für seltsame Reaktionen es noch geben würde. Sobald er in die Nähe des Hauses kam, verbarg er den Stein tief in seiner Hosentasche. Abends aß er nur einen kleinen Happen und verzog sich eilig in seine Dachmansarde. Er wollte jetzt am liebsten alleine sein.
Seinen Eltern kam das sehr merkwürdig vor, nutzte Finn doch sonst jede freie Minute, um sie mit den Großeltern zu verbringen. Also ging sein Vater die Treppe hinauf, um bei ihm nach dem Rechten zu sehen.
Finn saß auf dem Bett und tat so, als lese er interessiert in einem Buch. Sein Vater setzte sich zu ihm. »Ist bei dir alles okay?«
»Ja, alles okay!«
»Wirklich?«
»Aber ja doch«, sagte Finn etwas genervt. Immer diese Erwachsenen, die alles ganz genau wissen wollen.
Da fiel der Blick seines Vaters auf den Nachttisch neben dem Bett. Ach du Schreck, dachte Finn. Da liegt ja noch das Amulett! Schnell wollte er danach greifen, um es an sich zu nehmen, aber da hielt es sein Vater schon in den Händen. Er betrachtete es genauso erschrocken wie zuvor der Großvater und sagte dann mit strenger Stimme: »Wo hast du das her, Finn?«
»Ich … ich habe es in einer alten Kommode im Stall gefunden. Es war dort zwischen zwei Schubladen eingeklemmt«, stammelte er.
Sein Vater war auf einmal ganz aufgeregt. Sein Schnurrbart begann wieder verdächtig zu zucken. Erschüttert schaute er zwischen Finn und dem Amulett hin und her. Nach einer Weile stand er abrupt auf. Finn dachte im ersten Moment, er würde ihm das Amulett wegnehmen. »Bitte, lass es hier, Papa!«, bat er besorgt und streckte seine Hand nach dem Amulett aus.
»Ja, ja, ich lass es dir hier, schon gut. Ich habe nur eine Bitte: Glaub nicht so viel von dem Zeug, was Opa über dieses Amulett erzählt. Bitte!« Er legte kurz seine Hand auf Finns Schulter, gab ihm das Amulett zurück und verließ den Raum.
Nach dieser Unterhaltung war natürlich an Schlaf nicht zu denken. So lag Finn noch lange wach im Bett und grübelte über die seltsamen Ereignisse dieses ersten Ferientags. Das war doch nicht normal, wie Großvater und sein Vater sich benahmen. Irgendwie musste er herausfinden, was dahintersteckte.
Einige Zeit später hörte er, wie Oma und seine Mutter zu Bett gingen. Die beiden Männer blieben zu zweit im Wohnzimmer sitzen. Das war, so lange Finn zurückdenken konnte, noch nie passiert. Normalerweise hatten die beiden sich nicht viel zu sagen und waren nur ungern allein miteinander in einem Raum. Was hatte sie wohl dazu bewogen, noch aufzubleiben? Finn wusste zwar, dass es nicht okay war, andere Leute zu belauschen, aber er musste unbedingt herausfinden, was das alles bedeutete. Ganz leise stand er auf und schlich auf den kleinen Flur. Ein
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