Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
Minuten später hörte ich ein Geräusch, blickte hoch und sah, wie Pip auf einem gut zweieinhalb Meter hohen Berg Heuballen stand, der die halbe Scheune ausfüllte. Sie hatte ihre Nase tief zwischen die Heuballen gesteckt, winselte und scharrte. Sie hatte das noch nie vorher getan und hat es seitdem auch nie wieder getan. Es musste Ayla sein.
Ich muss etwa fünfzig Heuballen weggeräumt haben, bevor ich sie fand, direkt unterhalb der Stelle, an der Pip gegraben hatte: ein 3 Kilo leichtes Bündel verhungerter, dehydrierter Katze, ein Bein und die Schulter so geschwollen, dass ich sie zuerst gar nicht als solche erkannte. Sie sah wie tot aus. Der Tierarzt sagte, dass sie das in ein paar Stunden auch gewesen sei. Sie hatte eine böse Bisswunde an der Schulter, die sich entzündet hatte und die Infektion wütete in ihr, während sie sich in den Heuballen versteckte und langsam starb.
Ayla geht es heute gut. Sie hat sich zur Rente ins Haus zurückgezogen, wo sie sich auf warmen, schafähnlichen Schößen zusammenrollen kann. Sie besucht die Scheune gelegentlich, hält ihre Schläfchen aber jetzt bevorzugt drinnen, in der Nähe der Heizung. Letzten Monat schenkte ich ihr eine gefangene, aber nicht in der Falle getötete Maus. Sie wandte sich ab und ging weg. Offensichtlich nimmt sie ihren Ruhestand ernst.
Pip hatte Aylas Leben gerettet, und zwar mit ihrer Nase. Auch ich habe eine Nase. Sie funktioniert ganz gut. Der satte, moschusähnliche Duft wilder Pflaumen hüllte mich letzten Abend auf meinem Spaziergang durchs Tal ein wie ein weiches Kissen. Ich schlafe mit Lavendelduft ein und nehme Eukalyptus mit auf Geschäftsreisen, um die schlechten Gerüche in billigen Motelzimmern zu übertünchen. Ich kann so gut wie jeder andere auf der Welt Katzenurin auf dem Teppich riechen - eine wichtige Fähigkeit für eine Tierverhaltenstherapeutin. Aber es kam mir nie in den Sinn, meine Nase einzusetzen, um Ayla zu suchen. Natürlich funktioniert meine Nase auch nicht so gut wie die von Pip, aber kam ich überhaupt auf die Idee, sie zu benutzen? Nein. Ich schaute. Ich hörte. Pip roch. Ich bin ein Mensch, und sie ein Hund.
D IE N ASE WEISS B ESCHEID
Wir alle wissen, wie gut Hunde mit ihren Nasen sind. Wir sehen Sprengstoffspürhunde auf Flughäfen und hören von Bluthunden, die die Spur verirrter Kinder im Wald verfolgen können. Wir sehen unseren Hunden zu, wie sie andere Hunde unter dem Schwanz beschnüffeln und fragen uns, was um alles in der Welt sie da über den anderen in Erfahrung bringen. Was wir nicht wissen ist, wie gut unsere eigenen Nasen sind. Unsere Fähigkeiten mögen blass aussehen neben denen eines Beagles, den ich gerne liebevoll »Nase mit Pfoten« nenne, aber Geruch ist auch für uns Menschen sehr wichtig. Wir scheinen uns dessen nur die meiste Zeit über nicht bewusst zu sein.
Wie in Eine Naturgeschichte der Sinne von Diane Ackerman beschrieben, sind die Forschungsergebnisse zur menschlichen Riechfähigkeit nicht weniger als erstaunlich. Menschen können Ihnen sagen, ob ein T-shirt von einem Mann oder einer Frau getragen wurde, indem sie nur daran riechen – auch wenn sie vorher sagen, dass sie das nicht könnten. Mütter können den Geruch ihrer eigenen Kleinkinder korrekt identifizieren, auch wenn sie sagen, dass sie nur raten. Babys wissen nur anhand des Geruches, wann ihre Mutter den Raum betritt. Mütter können von ihren eigenen Kindern getragene T-Shirts zuverlässig aus denen anderer Kinder herausfinden. Frauen können sogar den Grad der Geschlechtsreife eines Menschen nur anhand des Geruches feststellen und unterscheiden korrekt zwischen Kleinkind, Kind, Jugendlichem und Erwachsenem. Helen Keller, die seit einer Scharlacherkrankung in ihrer Kindheit blind und taub ist, behauptete, nur anhand des Geruches sagen zu können, womit Menschen zuvor beschäftigt waren – der Geruch von Wald oder von Küche hing noch an ihnen, wenn sie längst in einer anderen Umgebung waren.
Unser Geruchssinn bestimmt unser Verhalten stärker, als wir uns das je vorgestellt haben. Bei eng zusammen lebenden Frauen beginnt die Menstruation sich auf die gleiche Zeit einzustellen – nur aufgrund der Gerüche, deren sich die Frauen nicht einmal bewusst sind. 1
Männer, die in intimen Beziehungen mit Frauen leben, haben schneller wachsende Barthaare als Singles, und Mädchen, die zusammen mit Jungen aufwachsen, kommen früher in die Pubertät als die, die nur unter sich sind. Der Geruchssinn ist sogar ein wichtiger
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