Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
Älterwerden noch bemerkenswert verspielt bleiben.
Veränderungen im Entwicklungsprozess haben uns viel darüber zu lehren, wie und warum Hunde so verschieden von Wölfen sein können, wo sie doch trotzdem zur gleichen Spezies gehören. Ein russischer Wissenschaftler namens Dmitrij Beljajev hatte sich dafür interessiert, wie der Prozess der Domestikation zu Tieren führte, die weniger aggressiv sind als ihre wilden Vorfahren. Er lieh sich ein Rudel Füchse von russischen Pelzfarmen aus und suchte sich die sanftmütigsten unter ihnen aus, um mit ihnen weiterzuzüchten. Er musste sorgfältig auswählen, denn die meisten Füchse, mit denen er arbeitete, reagierten nicht gerade freundlich auf den Umgang mit Menschen. Aus jedem Wurf suchte er nur die aus, die mit geringster Wahrscheinlichkeit wegliefen oder bissen und die am ehesten die ausgestreckte Hand des Wissenschaftlers ableckten und sich ihm freiwillig näherten. In nur zehn Generationen waren 18 Prozent der geborenen Füchse das, was Beljajev als »domestizierte Elite« bezeichnete – sie nahmen gerne Kontakt mit Fremden auf, winselten und leckten wie Hundewelpen sein Gesicht. In der zwanzigsten Generation legten es 35 Prozent der Füchse eher aufs Gestreicheltwerden als aufs Weglaufen und Beißen an, wie es die meisten erwachsenen Füchse tun würden.
Was diese Studie so interessant und so wichtig für die Wissenschaft macht, ist folgendes: Obwohl der Forscher nur auf ein einziges Merkmal, die Sanftheit, selektierte, veränderte sich auch eine Vielzahl anderer Merkmale in Verhalten, Anatomie und Physiologie der Füchse. Die umkippenden Ohren junger Hundewelpen blieben den Füchsen bis ins Erwachsenenalter erhalten. Die erwachsene »domestizierte Elite« verhielt sich trotz des Älterwerden weiter wie Welpen, sie zeigten im höheren Alter weniger Angst vor unbekannten Gegenständen als die normale Fuchspopulation und sie reagierte unterwürfig auf Fremde durch Heben der Pfoten, Winseln und Wedeln mit dem ganzen Körper, wie es Hundewelpen tun. Aufregend war die Entdeckung, dass sie weiße Flecken in ihrem Fell bildeten, wie so viele unserer zahmen Haustiere. 1
Die Füchse entwickelten außerdem Probleme mit Vor- und Rückbissen der Kiefer (genau wie unsere Haushunde), gebogene oder geringelte Ruten anstelle der geraden Ruten erwachsener Füchse oder Wölfe, lockiges oder welliges Fellhaar, eine geringere Produktion der Nebennieren und eine höhere Serotoninproduktion. Die beiden letzten physiologischen Veränderungen haben mit dem allgemeinen Stressniveau eines Tieres zu tun: Eine niedrige Kortikosteroidproduktion der Nebennieren und ein höherer Serotoninspiegel lässt sich bei Tieren feststellen, denen unbekannte Dinge weniger Stress verursachen und die offener für Veränderungen sind.
In ihrem Buch Dogs über die Evolution der Hunde bringen Raymond und Lorna Coppinger gute Argumente dafür an, dass all dies sich auf »Fluchtdistanz« reduzieren lässt – anders gesagt, wie wahrscheinlich ist es für ein bestimmtes Tier, dass es bei der Annäherung von etwas Unbekanntem in Alarmbereitschaft gerät. Erwachsene Tiere sind misstrauischer als ihre Jungen. Letzten Endes macht ja auch die naive Ahnungslosigkeit, was die Gefahren der Welt um sie herum betrifft, einen guten Teil der Freude aus, die man beim Beobachten von Kindern und Hundewelpen empfindet. Es ist erfrischend, zeitweise die Last eines Erwachsenen von »auf der Hut sein« abwerfen zu können. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass Spielen für uns so gesund ist.
Der gemeinsame Faktor in all diesen Merkmalen von Beljajevs Füchsen ist Pädomorphie oder die Beibehaltung jugendlicher Merkmale im Erwachsenenalter, die sich auch bei unseren Haushunden finden lässt: Insgesamt gesehen benehmen sich erwachsene Haushunde sehr viel eher wie junge Wölfe und nicht wie erwachsene Wölfe. Diese Selektion auf jugendliche Charakteristika hat im Fall der Hunde zwei verschiedene Erklärungsmöglichkeiten. Das traditionelle Argument lautet, dass Haushunde sich aufgrund künstlicher Zuchtwahl aus Wölfen entwickelt haben, weil die Menschen selektiv die zahmsten Wölfe behielten und mit ihnen weiterzüchteten. Eine andere These ist, dass die Zahmheit sich in einem Prozess natürlicher Selektion entwickelte, in dem Hunde mit kürzeren Fluchtdistanzen sich rund um die menschlichen Siedlungsstätten versammelten, um dort weggeworfene Essensreste zu erbeuten. 2 Ich selbst mag die Theorie der natürlichen
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