Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
der Sprache und mit abstrakten Konzepten, aber er würde die Spielregeln der Machtkämpfe genauso gut verstehen wie jeder andere. 3
Es gibt wissenschaftliche Theorien, nach denen der relativ große Neokortex (Vorderhirn) der meisten Primaten das Ergebnis dessen ist, dass wir mit komplexen sozialen Beziehungen umgehen müssen. Ohne ausreichende Leistungsfähigkeit des Gehirns können sie nicht über Dutzende von Individuen in ihrer sozialen Gruppe (falls genug Nahrung da ist, möglicherweise auch über Hunderte) auf dem Laufenden sein, die alle intensive, ständig wechselnde Beziehungen untereinander haben. Unsere sozialen Handlungen finden nicht zufällig statt. Alle menschlichen Kulturen, von Jägern und Sammlern bis hin zu Großstadtpflanzen, teilen miteinander gewisse universelle Formen des Umgangs. Diese soziale Bestimmung hat einen tiefgreifenden Einfluss darauf, wie wir die Beziehung zu unseren Hunden gestalten. Manchmal können wir uns (und unsere Hunde) in richtig große Schwierigkeiten bringen, wenn unser primatentypisches soziales Verhalten in Konflikt mit dem natürlichen Verhalten von Hunden gerät. In weiten Abschnitten dieses Kapitels sind einige dieser Probleme, und wie man sie am besten vermeidet, beschrieben. Ironischerweise können selbst einige der Hunden und Menschen gemeinsamen Aspekte des Sozialverhaltens zu Problemen führen.
S OZIALE V ERTRAUTHEIT
Wie in Kapitel 1 beschrieben, mögen wir uns von Hunden in den visuellen Signalen unterscheiden, die wir zur Begrüßung von Mitgliedern unserer sozialen Gruppe verwenden, aber in mancherlei Hinsicht sind wir von ihnen gar nicht so verschieden. Beide Spezies teilen miteinander ein Bewusstsein des persönlichen Raumes und wissen, wie wichtig es ist, körperliche und soziale Intimität miteinander in Einklang zu bringen. Erinnern Sie sich, wie dieser Typ in der Fernsehsendung »Wer heiratet den Millionär« seine neue Frau begrüßte? Er ging geradewegs auf die Frau zu, die er noch nie zuvor im Leben gesehen hatte, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und schob seine Zunge in ihren Hals. Ich kann nicht einmal darüber schreiben, ohne angeekelt den Kopf zur Seite zu drehen. Bestimmt hat keine Frau, die sich freiwillig in diese Lage begeben hat, mein Mitleid, aber ich wäre die erste, die sie verteidigt hätte, wenn sie den Typ gebissen hätte. Sein Verhalten war so unangemessen, dass es aggressiv erschien. Hunde sind da gar nicht so anders: Beide Spezies sind sich ständig darüber bewusst, welcher Grad von Intimität gerade angemessen ist. Wie würden Sie sich fühlen, wenn man von Ihnen als Erwachsener erwarten würde, dass Sie selbstverständlich jedem Fremden erlauben müssen, Ihren Kopf zu befummeln und sein Gesicht an das Ihre zu drücken? Natürlich sind nicht alle Menschen gleich berührungsfreudig. Manche umarmen gerne Fremde, während andere selbst ihre eigenen Kinder selten umarmen. Auch die Hunde reagieren unterschiedlich – vom ewig fröhlichen Labrador, der annimmt, alle Menschen seien genauso berührungsfreudig wie er bis hin zum würdevollen Akita, der seine Zuneigung ausdrückt, indem er zu Ihren Füßen meditiert. Behalten Sie also sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen Primaten und Caniden im Auge, wenn Sie das nächste Mal auf der Straße einen niedlichen Hund sehen. Vielleicht, nur vielleicht, wirken Sie auf den Hund wie diese aufdringliche Person auf der letzten Party, die Ihnen zu schnell zu nahe kam und vor der Sie am liebsten weglaufen wollten. Stellen Sie sich vor, Sie wären angeleint und könnten nicht flüchten.
E IN BISSCHEN FEHL AM P LATZ?
Ein weiteres Verhalten, das wir Menschen mit unseren Primatenverwandten teilen, ist die »gegenseitige Fellpflege«. Bei den meisten Arten besteht sie darin, dass einer sorgfältig das Haar des anderen auseinander scheitelt und Dreck und Parasiten entfernt.
Aber Saubermachen ist nicht die einzige Funktion der Fellpflege. Sie spielt eine größere Rolle in den sozialen Beziehungen der meisten Primatenarten, sie schafft Bindung zwischen den Individuen und löst soziale Spannungen. Vielleicht ist das der Grund, warum die meisten Primaten so erstaunlich viel Zeit mit der gegenseitigen Fellpflege verbringen. Stummelschwanzmakaken verbringen 19 % ihrer Wachzeit mit gegenseitiger Fellpflege. Rhesusmakaken, die Miesepeter der Primatenwelt, verbringen nur 9 % ihrer Zeit mit Fellpflege, aber das ist immer noch ein ganz schön großer Teil des ansonsten nur mit
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