Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
um John aufzuregen. Chester war in diesem Fall nicht ganz das hilflose Opfer: Er nahm das, was er gelernt hatte und benutzte es, um John auf die Palme zu bringen, aber das ist ein himmelweiter Unterschied zu Dominanzaggression. Wo war überhaupt die Aggression? Chester hatte John niemals angeknurrt und noch weniger versucht, ihn zu verletzen. Das Verhalten konnte geändert werden, indem John als Korrekturwort von nun an »falsch« anstelle von »nein« sagte. Chester lernte, dass etwas Angenehmes folgte, wenn er sein aktuelles Tun auf das Wort «falsch« hin einstellte. Chester liebte dieses neue Spiel, und das letzte was ich hörte, war, dass John schon lange nicht mehr wegen Chester sein Bett neu beziehen musste.
D OMINANZ ?
Chesters Verhalten hatte wenig mit Dominanzaggression zu tun. Es war die Reaktion eines cleveren Hundes, der gelernt hatte, mit einer unangemessen aggressiven Korrektur seines Halters umzugehen. In diesem Fall hatte es nicht zu wirklichen Schwierigkeiten geführt, weil der Besitzer so klug gewesen war, Hilfe einzuholen, bevor er auf Grundlage einer falschen Diagnose und schlechter Ratschläge seiner Kumpel handelte. Echte Probleme dagegen entstehen nur zu oft aus der fehlerhaften Diagnose »Dominanzaggression« und dem nur allzu häufigen schlechten Ratschlag, dem Hund zu »zeigen, wer der Herr ist«. Die Ergebnisse könnten einen so manches Mal verzweifeln lassen.
Nie, niemals werde ich die Videoaufnahmen von Scooter vergessen, einem großäugigen, sechzehn Wochen alten Golden Retriever Welpen. Nur ein Blick auf Scooter – weich und golden, Babykopf und große Tapspfoten – und man mochte ihn zum Knuddeln mit nach Hause nehmen. Zu spät – Scooter ist tot. Im Alter von vier Monaten wurde er wegen Dominanzaggression eingeschläfert, das Ergebnis der fürchterlichen Anweisungen, die Hundetrainer den gutwilligen Besitzern gegeben hatten. Scooter war, wie die meisten Retriever, versessen auf Gegenstände. Er liebte Spielzeuge ab dem ersten Tag in seinem neuen Zuhause und trabte stolz mit allem, was er in den Fang kriegen konnte, durchs Haus. Die verantwortungsbewussten Besitzer besuchten mit Scooter den Welpenkurs einer Hundeschule und fragten, was sie tun sollten, wenn Scooter Socken aus der Wäsche, die Fernbedienung vom Tisch (bei Hunden immer sehr begehrt) oder Schuhe aus der Diele stahl. »Sie müssen tun, was Wölfe auch tun!« sagten die Trainer. »Gehen Sie hin, packen ihn am Nackenfell und schauen ihm direkt ins Gesicht. Sagen Sie mit lauter und drohender Stimme ‘Nein’. Sie müssen ihm von Anfang an klarmachen, dass Sie das Sagen haben, dass Sie ranghöher sind und dass er nicht mit dem Sachenklauen durchkommt.«
Die Besitzer gehorchten: Ich sah ihre Versuche auf Video. In den ersten Stadien seiner Behandlung wirkte Scooter verwirrt und ängstlich. Scooter, ein Kinderspielzeug fest zwischen den Zähnen haltend, scheute zurück, als seine (todunglücklich aussehende) Besitzerin ihn am Nackenfell packte, schüttelte und immer wieder »Nein« sagte. Aber Scooter ließ das Spielzeug nicht los. Ich glaube auch nicht, dass ihm diese Idee in den Sinn kam. Scooter wusste nichts weiter, als dass sein Frauchen ihn angriff. Er verspannte alle Muskeln, schloss seine Augen, versuchte, eine beschwichtigende Körperhaltung einzunehmen und wartete, bis es vorbei war. Aber natürlich führte all das nicht dazu, dass er das Spielzeug aus seinem verkrampften Fang fallen ließ, also schrie die Besitzerin lauter, näherte ihr Gesicht das dem Scooters bis auf wenige Zentimeter und schüttelte weiter. Weiter hinten auf dem Videoband beginnt Scooter zu knurren, wenn seine Besitzerin ihn schüttelt und bedrängt und schließlich beginnt er zu knurren und in Angriffsstellung zu gehen, wenn sie sich nur einem für ihn wertvollen Gegenstand nähert – selbst wenn er ihn gar nicht im Fang hat.
Die letzte Szene ist in der Tat furchteinflößend: Mit stechendem Blick geht Scooter knurrend auf seine glücklose Besitzerin los, als sie versucht, ein über einen Meter vor seinen Pfoten liegendes Spielzeug aufzuheben. Aber ich fühle mich immer noch miserabel, wenn ich an seinen Tod denke. Scooter war sicher kein kleiner Engel. Seine Objektbesessenheit war extrem, und ich hätte ihm nie in einem Haus mit kleinen Kindern vertraut. Aber als ich mit der Tierarzthelferin sprach, die spät in diesem Fall angerufen worden war, sagte sie, dass der Hund nie in einem anderen Zusammenhang geknurrt hatte, dass er die
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