Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
erklimmen, lasse ich die Hunde alle noch einmal zum letzten Pipimachen hinaus. Als wir damals mit diesem Ritual begannen, war die rangniedrige Pip die erste, die sich hinsetzte, während Lassie und Tulip warteten, bis sie fertig war, damit sie anschließend darüber urinieren konnten – zuerst Lassie, dann Tulip. Eine solche Reihenfolge sieht man auch bei Wölfen, die höherrangigen Tiere setzen ihre Urinmarken über den Urin der rangniedrigen. Wenn Sie mehrere Hunde haben, besonders vom gleichen Geschlecht, achten Sie einmal darauf, ob es eine Ordnung gibt, wer sich wann lösen geht und ob ein Hund vorhersagbar über den Urin des anderen markiert. Kürzlich gab es in der Routine meiner Hunde eine Veränderung, denn letzten Winter war ich es satt geworden, um zehn Uhr abends draußen in der Kälte zu warten, während vier Hunde nach den letzten Erdhörnchennachrichten schnüffelten. Ich begann damit, ihnen Leckerchen zu geben, sobald sie fertig waren, um die ganze Sache zu beschleunigen (es wirkt Wunder). Jetzt achten sie etwas weniger darauf, wer zuerst geht und dafür mehr darauf, dass sie das Leckerchen bekommen. Trotzdem müsste der Tag erst noch kommen, an dem Pip über die von Lassie zurückgelassene Pfütze urinieren würde und man kann immer noch darauf wetten, dass Luke wartet, bis Lassie fertig ist, damit er darüber urinieren kann.
Sozialer Status ist auch im Spiel offensichtlich. Auch wenn im Spiel viele soziale Unterschiede ignoriert werden (genau wie bei uns), so sind sie doch nicht bedeutungslos. Tulip kann Pip den Ball wegnehmen, aber Pip wird Tulip immer nachgeben, auch wenn sie den Ball zuerst bekommen sollte. Ich hatte noch nie einen so ballversessenen Hund wie Pip, aber da Queen Tulip mehr soziale Freiheiten genießt als Pip, heißt das, dass sie den Ball jederzeit bekommt, wenn sie ihn möchte. Manchmal mag sie ihn auch gar nicht, denn genau wie andere Königinnen hat Tulip zu sagen, ob etwas wichtig ist und wann.
Menschen und Hunde sind dazu prädispositioniert, hierarchische soziale Systeme zu haben, weil beide Spezies Lösungsmöglichkeiten für Konflikte benötigen, wie sie sich aus dem Leben in einer Gruppe ergeben können. Zu diesen möglichen Konflikten kann gehören, wer zuerst durch die Tür geht, wer den besten Schlafplatz bekommt oder wer sich mit wem paaren darf. Wie wir Menschen gut wissen, ist Kampf eine der Konfliktlösungsmöglichkeiten. Er ist aber nicht die beste Lösung, wenn die Konflikte mehrmals am Tag auftreten können: Das verbraucht zu viel Energie und ist gefährlich. Mit dem System einer sozialen Rangordnung, in dem jedes Gruppenmitglied an einer bestimmten Stelle der Rangfolge steht, vermeiden die Individuen, jedes Mal beim Entstehen eines Konfliktes kämpfen zu müssen. Dieses Konzept muss eine gute Lösung für die unvermeidlichen Konflikte des Gruppenlebens sein, denn es ist in der Welt sozial lebender Tiere allgegenwärtig. Der Rang des Einzelnen kann sich verändern und die Rangordnung ist in egalitären Gesellschaften sehr fließend, trotzdem ist die Position jedes Einzelnen zu jedem Zeitpunkt genauso real wie seine körperliche Präsenz.
E IN B EGRIFF IM B LICKPUNKT
Ich muss zugeben, dass ich dieses ganze Thema von Sozialstatus lieber ganz umgehen würde, denn es ist in der Welt der Hundeerziehung inzwischen so umstritten und emotional geladen, dass ich wahrscheinlich so etwas wie eine Korrektur mit dem Elektroschockhalsband riskiere, wenn ich es anschneide. Anstatt das gesamte Konzept von sozialem Status zu betrachten, hat man sich in der Hundeerziehung nur auf »Dominanz« konzentriert, und zum Schaden unserer Hunde wurde Dominanz nur zu oft mit Aggression gleichgesetzt. Dies sind grundverschiedene Dinge, aber Dominanz mit Aggression zu verwechseln, ist so häufig, dass jede Erwähnung des Wortes »Dominanz« in manchen Kreisen geradezu politisch inkorrekt ist. Manche promovierten Verhaltensforscher, Tierärzte und Hundetrainer sind sogar dagegen, das Wort Dominanz überhaupt zu verwenden. Auf einem Fachtreffen wurde das Wort so belastet, dass Wayne Hunthausen, ein Tierarzt mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie und ich spaßeshalber vom »früher als Dominanz bezeichneten Konzept« zu sprechen begannen. Ich sympathisiere wirklich mit denjenigen, die gegen die Verwendung des Begriffs sind. Das Wort ist so missbraucht worden, dass die Versuchung nahe liegt, es ganz aus unserem Vokabular zu streichen. Wir können allerdings nicht die Tatsache übersehen, dass
Weitere Kostenlose Bücher