Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
Auch wenn ich es vermeide, Rassen mit Stereotypen zu belegen, weil es einem den Blick auf das tatsächliche Wesen des Hundes verstellen kann, sah Chester aus wie die Karikatur eines klassischen Chessie-Rüden, als er in mein Büro getrottet kam. Er hatte diesen großen, quadratischen Schädel, der bei Menschen und Hunden mit viel Testosteron einhergeht. (Stellen Sie sich die Kieferform eines klassisch gut aussehenden Mannes verglichen mit der einer schönen Frau mit feinem Kinn vor.) Er hatte Muskeln wie ein Gewichtheber und war stark wie ein kleiner Bulle.
Ich setzte mich ein wenig aufrechter hin, atmete ein und fragte, was das Problem sei. »Dominanzaggression,« sagte mir sein Besitzer John, diagnostiziert vom Tierarzt. Es sah so aus, als würde Chester nicht gerade freundlich auf Johns Korrekturmaßnahmen reagieren. Wenn John im Haus »Nein« zu Chester sagte, rannte Chester ins Schlafzimmer, sprang aufs Bett, wartete, bis John ihm nachgelaufen kann und hob dann, John direkt in die Augen blickend, das Bein und pinkelte aufs Kissen.
Nachdem ich mich ein paar Minuten lang mit John unterhalten hatte, begann ich mit meiner üblichen Beurteilung, während derer ich mit dem Hund interagiere, um herauszufinden, was ich von ihm erfahren kann. Eines der Dinge, die ich herauszufinden versuche, ist, ob ein Hund auf meine Berührung mit einem kalten, harten Blick direkt in meine Augen reagiert. Ein kalter, starrender Blick ist eines der optischen Signale, mit dem hochrangige Hunde andere warnen. »Geh zur Seite, Mann, oder du kriegst es mit mir zu tun« könnte die ungefähre Übersetzung lauten. Sie müssen keinen Doktortitel haben, um zu begreifen, dass Sie in Schwierigkeiten stecken könnten, wenn ein so großer Hund wie Chester erstarrt und Ihnen direkt in die Augen schaut – mit einem messerscharfen Blick. So beängstigend er auch ist, dieser direkte Blick ist ein nützliches visuelles Signal, das erklären hilft, warum ein Hund tut was er tut. Also begann ich mit Chester zu arbeiten, um zu sehen, ob ich ihn provozieren könnte.
Die meisten Hunde, egal ob Hündin oder Rüde, nach Rang strebend oder unterwürfig, mögen es scheinbar nicht, wenn sich Menschen an ihren Pfoten zu schaffen machen. Wie anders als wir sind sie in dieser Beziehung: Wir Menschen lieben Händchenhalten, Handmassagen und Maniküren. Manche Rüden haben besonders etwas dagegen, wenn man ihre Hinterpfoten anfasst. Man kann viel über einen Hund erfahren, wenn man vorsichtig seine Hinterpfote hochhebt. Manche lecken einem die Hand, andere verfallen in ängstliche Erstarrung und ziehen die Lefzenwinkel in nervöser Grimasse zurück. Wieder andere versteifen sich und starren einen mit eiskaltem, hartem Blick an. Die meisten Hunde schauen einen so nicht an: Wenn Sie kein professioneller Hundetrainer sind oder nicht schon einmal einen besonders schwierigen Hund hatten, haben Sie das wahrscheinlich noch nie gesehen. Ich habe diesen Blick in den Augen eines Wolfsmischlings gesehen, der sich noch die Zeit nahm, einen Blick wie eine Gewehrkugel in meine Augen zu schießen, bevor er seine Zähne in meine Hand grub. (Ich hatte ein Stück Fleisch anderthalb Meter neben dem Knochen, an dem er gerade kaute, auf den Boden geworfen. Während er das Fleisch fraß, hob ich den Knochen auf und gab ihn anschießend zurück, damit er lernen sollte, sich nichts daraus zu machen, wenn jemand seine »Schätze« aufhob. In weniger als einer halben Sekunde nahm er mir den Knochen aus der Hand, spuckte ihn aus, während er einen wütenden Blick auf meine Augen abschoss und dann tief und fest in meine andere Hand biss.)
Normalerweise ist der Blick eine echte Warnung und gibt Ihnen Zeit zum Reagieren, etwa innerhalb einer Viertelsekunde, bevor Sie verletzt werden. Solange ich handle, besteht für den Hund keine Notwendigkeit, auf sein Leckerchen aufzupassen und damit wenig Gefahr. Ich provoziere einen Hund nicht unüberlegt, bis er keine andere Wahl mehr hat, als zu reagieren. Während ich ruhig seine Hinterpfote bearbeite, beobachte ich aus den Augenwinkeln sein Gesicht. Außerdem teste ich ihn, indem ich mit der Hand nach ihm lange, wenn er einen Knochen im Fang hat. Ändert sich sein Ausdruck? Was macht er, wenn ich eine Vorderpfote festhalte, nachdem er versucht hat, sie wegzuziehen? Bei all diesen Tests lerne ich viel über den Hund – wie er auf etwas leicht Unangenehmes reagiert oder was er tut, wenn ich beginne, ihm seine »Schätze« wegzunehmen. Eine der
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