Das andere Ufer der Nacht
den Mann zu, sondern schlug sicherheitshalber einen Bogen. Schließlich blieb ich neben ihm stehen und leuchtete ihm direkt ins Gesicht.
Es war ein Mann. Ein uralter Mensch mit einem Gesicht, dessen Farbe sich denen der Steine angeglichen hatte. Es sah im fahlen Schein des Lichtfingers grau und gleichzeitig auch grün aus, als wäre die Haut zu Stein geworden und erstarrt.
Ich kniete mich nieder. Vergessen hatte ich die Gefahr. Ich sah nur den Mann, der zwischen den Steinen lag und sich mit letzter Kraft hierher geschleppt haben musste. War er tot?
Ich berührte die Haut und wunderte mich fast darüber, dass sie doch nicht aus Stein bestand. Mit den Fingerspitzen strich ich über die Wangen, konnte die Hautfalten fühlen, kratzte mit dem Fingernagel hinein, ließ die Kuppe weitergleiten, ertastete die Lippen und spürte den Feuchtigkeitsfilm auf ihnen.
Der Mann trug alte zerschlissene Kleidung. Sie war klamm und feucht. Ich schaute mir die Hände des Alten an. Gichtkrumm standen sie in einer makaber anmutenden Starrheit. Das Haar klebte am Schädel. Einige dünne Strähnen, deren Enden in den Ohren kitzelten. Tropfen lagen auf der Haut, und ich leuchtete dem Alten jetzt direkt in die Augen, wobei ich gleichzeitig mit der anderen Hand nach seinem Herzschlag fühlte. Das Herz schlug, aber schwach und kaum zu fühlen, aber in dieser Person steckte noch Leben, und ich fragte mich natürlich, ob sie mir nicht Auskunft über die rätselhaften Vorgänge geben konnte. Gesehen hatte ich ihn noch nie. Die Nase stand spitz aus dem faltenreichen Gesicht, so wie man es von sehr kranken Menschen her kennt, bevor der Tod sie umfängt.
Ich war mir sicher, dass auch dieser Mann nicht mehr lange leben würde. Um ihm zu helfen, hätte ich ihn wegschaffen müssen, nur war mir das nicht möglich. Deshalb wollte ich versuchen, ihn zum Reden zu bringen. Einige Worte nur reichten mir schon, um dieses Geheimnis der unterirdischen Höhle und auch vielleicht das der alten Burg ein wenig zu lüften.
Ich schlug dem Mann leicht gegen die Wangen, rieb auch seine Stirn und sprach flüsternd und scharf auf ihn ein. Wenn er sich nicht schon zu weit auf der Straße ins Jenseits befand, würde er zurückkehren können und musste mich einfach hören.
Plötzlich zuckten seine Lider. Ein erster Erfolg stellte sich ein. Ich leuchtete in sein Gesicht, das Licht musste schmerzen, und das genau wollte ich.
»Kommen Sie zu sich!« beschwor ich ihn. »Ich bitte Sie! Kommen Sie zu sich! Lassen Sie mich nicht im Stich!«
Irgendwie musste meine drängende Stimme tief in seinem Innern einen Kontakt ausgelöst haben, denn er öffnete tatsächlich die Augen, starrte mich an und schaute so irritiert und erschreckt, dass ich die Lampe zur Seite nahm. Auch in den nächsten Sekunden änderte sich daran nichts, bis er die schmalen Lippen bewegte und eine Frage formulierte. Ich hatte mich auf die Worte konzentriert und konnte sie doch nicht verstehen. Erst als er sie wiederholte, begriff ich ihren Sinn.
»Bist du der Tod?«
Das hatte mich noch nie jemand gefragt. Ich erschreckte mich selbst darüber. War ich der Tod? Nein, bestimmt nicht, aber der Sterbende musste einen Grund gehabt haben, sich danach zu erkundigen.
»Nein, der Tod bin ich nicht«, gab ich zur Antwort. »Wieso aber fragst du mich danach?«
»Weil ich dort war.«
»Wo? Bei ihm?«
»Ja.«
Leider blieb er einsilbig, so dass das Rätsel um seine Person und Herkunft noch größer wurde. »Bitte, wie soll ich das verstehen? Wieso warst du drüben?«
Es dauerte eine Zeit, bis er mir die Antwort gab. Inzwischen veränderte sich auch sein Blick. Er hatte die Augen verdreht, schielte mal gegen die Decke, dann an mir vorbei, und seine Hände zuckten, als hätten sie unsichtbare Schläge bekommen.
»Das andere Ufer der Nacht!« hauchte er. »Ich habe das andere Ufer der Nacht gesehen…«
Meine Stimme klang bei der nächsten Frage gespannt. »Wieso das andere Ufer der Nacht? Was meinst du damit? Ist es das Jenseits?«
»Ja, so heißt es.«
»Und du warst drüben?«
»Sicher.«
»Wie kam es? Geht man einfach hinüber - und wenn ja, wo kann man das? Wie finde ich den Ort?«
Er schaffte es, seinen Arm ein wenig anzuheben. Die kalten Finger seiner Hand umschlossen mein Gelenk. »Es ist gefährlich, du darfst es nicht. Sie sucht immer welche, denn die Totenbarke wird in dieser Nacht erneut fertiggestellt.«
»Eine Barke?«
Er saugte pfeifend den Atem ein, so dass ich das Gefühl hatte, schon das
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