Das andere Ufer der Nacht
letzte Luftholen zu erleben. Zum Glück trat dies nicht ein, und der Mann redete weiter.
»Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich weiß nicht, wer du bist und wo du herkommst, aber ich möchte dich warnen. Es ist nicht gut, an das andere Ufer der Nacht zu fahren. Dort wartet die ewige Dunkelheit, und die Barke aus Knochen wird dich über den Fluss tragen…«
Es waren interessante Informationen, die ich da zu hören bekam. Trotzdem reichten sie mir nicht, ich wollte einfach mehr erfahren und forderte ihn auf, sein Wissen preiszugeben.
Er hatte mir zugehört, schaute mir ins Gesicht, und sein Blick wurde plötzlich wieder klar. »Willst du es wirklich versuchen, Fremder? Willst du hinüber?«
Ich nickte. Er ließ mein Gelenk nicht los. »Dann höre mir genau zu, damit es dir nicht so ergeht wie mir…«
Und er begann mit seiner phantastischen Erzählung…
***
»Musst du schon wieder rauchen?« fragte Suko und schielte auf die Packung, die der Reporter Bill Conolly in der rechten Hand hielt.
»Wieso nicht?«
»Es schadet.«
Bill winkte ab. »Weiß ich selbst, aber zum Teufel noch mal, ich bin einfach nervös.«
»Reiß dich zusammen!«
»Das sagst du so leicht.« Ohne die Zigarette aus der Packung genommen zu haben, schaute sich Bill um. Die beiden Freunde standen vor der Tür einer alten Herberge, die ihnen als Quartier diente. Wo sie sich aufhielten, lauerte das Ende der Welt. Auf einem Hochplateau in der spanischen Sierra, umgeben von gewaltigen Felsen und Bergen, hatte vor mehr als tausend Jahren ein Priester die Idee gehabt, eine kleines Dorf zu gründen und ihm den Namen Santera zu geben. So hieß es auch heute noch, obwohl es kaum einen Spanier gab, der diesen Ort kannte. Kein Tourist verirrte sich in das Dorf, in dem es nur einmal im Jahr etwas zu feiern gab.
Das Feuerwerk. Immer dann, wenn der Sommer seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde es abgebrannt, als Dank dafür, dass Santera vor langer Zeit einmal von den marodierenden Mauren nicht hatte eingenommen werden können. Dieses Feuerwerk galt allen Schutzheiligen, die ihre behütenden Hände über die Ortschaft gelegt hatten.
Auf einer Terrasse im Fels wurde das Feuerwerk abgebrannt, und alle Einwohner, selbst die Kinder, befanden sich auf dem Weg dorthin, so war es Bill und Suko berichtet worden.
Sie überlegten noch, ob sie ebenfalls gehen sollten, denn wegen des Feuerwerks waren sie nicht gekommen, außerdem warteten sie noch auf eine Nachricht ihres Freundes John Sinclair.
Hinter ihnen bewegte sich quietschend die Eingangstür der Herberge. Der Besitzer trat heraus. Bill und Suko gingen etwas zur Seite, damit er Platz bekam. Er schloss ab. »Oder wollen Sie rein?« fragte er.
»Nein.«
Der Mann schüttelte verwundert den Kopf, als er den Schlüssel verschwinden ließ. »Weshalb stehen Sie hier eigentlich? Alle gehen zum Fest. Warum nicht Sie?«
»Was ist schon ein Feuerwerk?« fragte Bill.
Der Spanier nickte. Er strich über seinen Bart und setzte seinen breitkrempigen Hut schief auf. »Im Prinzip haben Sie recht, Senores, aber dieses Feuerwerk ist etwas Besonderes.«
Suko nickte vor seiner Antwort. »Das wissen wir auch. Es wird zum Dank abgebrannt.«
»Stimmt.« Der Spanier kam dicht an die beiden heran, so dass sie seinen Rotwein-Atem riechen konnten. »Aber das ist nicht alles. In dieser Nacht des Dankes werden auch die Knochen hervorgeholt, um die Barke zu vollenden. Wisst ihr das?«
Die Freunde zeigten sich erstaunt. »Davon haben wir noch nichts gehört!« behauptete Bill.
Der Wirt und Herbergsvater nickte langsam. Sein Gesicht hatte den Farbton von Oliven in der bläulich wirkenden Dunkelheit bekommen.
»Ich kann mir vorstellen, dass ihr von dieser Sache noch nichts erfahren habt. Sie ist auch nicht bekannt geworden.«
»Und was geschieht jetzt?« Auf Bills Frage wurde mit einem Nicken geantwortet. »Da muss es doch einen Grund geben.«
Der Spanier lachte rauh. »Ja, den gibt es. Wir hier in Santera sind etwas Besonderes, denn wir bilden gewissermaßen das Tor zum Jenseits. Versteht ihr?«
»Nichts«, gaben die beiden ehrlich zu.
Der Einheimische winkte ab. »Ist auch nicht schlimm, Senores. Freut euch über das Feuerwerk.« Dann ging er davon, ohne noch ein Wort über das Thema zu verlieren.
Bill knetete sein Kinn. »Verstehst du das?« fragte er den neben ihm stehenden Chinesen.
»Noch nicht. Ich denke gerade darüber nach.«
»Aber nicht zu lange.«
»Wieso? Hast du es eilig?«
»Sollte man in Spanien eigentlich
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