Das Archiv
Schwimmen konnte er leidlich, aber im Boxen war es arg. Studienrat Hahnreich, Professor für Mathematik und Leibeserziehung, hatte eine Art persönlicher Freude daran, die Paarungen zu bestimmen. An einem regnerischen Mittwoch stellte er den Kilian gegen den Kersch, und der prügelte den blassen Erich zwei Runden unter dem Geheul der Klassenkameraden durch die Gegend, bis er ihn in der dritten voll auf die Nase traf, worauf man einen Doktor rief und den Kilian mit der Rettung heimführte. Am nächsten Tag saß er wieder in der ersten Bank, hatte seine Mathematikaufgaben sauber gemacht und zwinkerte. Mit einem Auge nur, das andere sah so aus, als ob es nie dagewesen wäre. Am nächsten Mittwoch war der dicke Schell an der Reihe mit Kilian, der Tormann des Fußballteams, diesmal verlor Zwinker Erich lediglich einen Zahn, den Zweier rechts oben, und er konnte zu Fuß heimgehen. Am dritten Mittwoch war Willi Weiss an der Reihe. »Langsam wird das langweilig«, sagte Willi damals zu Kersch und dem Schell-Bladen, »der Hahnreich, dieses Schwein, übertreibt es wirklich.« Die beiden nickten und Kersch meinte, es täte ihm leid, daß er den Erich so verdroschen hatte, denn eigentlich wäre er doch ein guter Kerl. »Spielerversammlung«, sagte Willi und die gesamte Mannschaft traf sich in der Zehnerpause auf dem Klo.
Urinierend und zigarettenrauchend kamen sie überein, daß Zwinker-Erich diesmal K.O.-Sieger sein werde. »Der Hahnreich wird sich blau ärgern«, meinten alle, und sie gönnten es ihm. In den Umkleidekabinen umstellten sie Kilian. Erich zwinkerte und war noch blasser als sonst. »Verstehst du mich«, schrie ihn Willi an, »ich hau dich eine Runde immer nur auf die Handschuh. Halt die Handschuh vors Gesicht, daß es ordentlich patscht. Wenn ich sage ›psst‹ in der zweiten Runde, hau eine rechte Gerade. Ich fall dann um. Verstehst du mich?«
Es war keine Zeit mehr für weitere Instruktionen, Hahnreich kam. Eine Runde drosch Willi in Kilians Handschuhe und hatte schon Angst, er würde ihm die Handknochen brechen. In der Pause schaute Hahnreich bereits leicht irritiert, bevor er den Gong anschlug. Willi schlug eine Doublette knapp neben die Ohren Erichs und machte »psst«, er spürte einen Schlag an der Stirn und ließ sich fallen. Gezielt schlug er mit dem Kopf auf den hölzernen Ringboden, was immerhin eine großartige Beule gab. Sie zählten ihn aus, und Kersch und der Schell-Blade trugen ihn in den Waschraum, wo sie alle drei wild mit Wasser spritzten und fürchterlich lachten, allerdings lautlos, so daß Studienrat Hahnreich nichts hören konnte. Die Geschichte hatte noch Nachspiele, insgesamt drei. Nachspiel Nummer eins war eine Art Verhör von Hahnreich, der partout nicht glauben wollte, daß ein Zufallstreffer von Zwinker-Erich Kilian den breitschultrigen Goalgetter Willi aus den Socken schmiß. Eine blaue Beule an der Stirn Willis und die entrüsteten Statements der Fußballmannschaft machten den Hahnreich zuerst unsicher, und dann war der Fall erledigt.
Nachspiel Nummer zwei war für Willi ein Fall zum Nachdenken: Nach einem Training am Brigittenauer Platz war Willi gerade mit dem Rad auf dem Heimweg, als er von Kilian überholt wurde, der ihm aufgeregt zuwinkte. Willi winkte gelangweilt zurück, wollte weiterfahren, aber Zwinker-Erich hörte nicht auf. Schließlich stiegen sie vom Rad, und Erich bat ihn so förmlich, daß es Willi geradezu rührte, er möge doch auf fünf Minuten mit ihm nach Hause kommen, gleich um die Ecke, es handele sich um seine Mutter. »Muß das sein?« fragte Willi lahm. Ihm schwante Böses, und dies erwies sich als begründet. »Was will denn deine Alte von mir. Ich muß in einer Stunde beim Handballtraining sein.« Sie endeten in der Kilianschen Zwei-Zimmer-Wohnung, Tee und ein Butterbrot gab es für Willi, und die Mutter war gar nicht so übel, aber hatte rote Augen, so daß Willi fürchtete, sie könnte jeden Moment anfangen zu weinen.
»Erich hat mir alles erzählt«, meinte sie, »und ich wollte Ihnen nur danken.« Sie sagte Sie und Ihnen, als ob Willi schon erwachsen oder sonst was Großartiges wäre, und Erich saß da und zwinkerte nur, und plötzlich hatte Willi Angst, er könnte selber anfangen zu heulen. »Der Hahnreich ist ein Schweinehund«, sagte er spontan, entschuldigte sich aber gleich bei Mutter Kilian wegen seiner ordinären Ausdrucksweise. Sie lächelte nur.
Er würgte an seinem Butterbrot und sagte dann: »Sie haben es ziemlich schwer, nicht wahr
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