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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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Nicht einmal seine Kinder hatten ihn in den letzten Jahren in Unterwäsche gesehen. Die schliefen ja schon, wenn er heimkam, und noch, wenn er wegging.
    Der Kaffeeduft stieg ihm in die Nase, und schon der Geruch wirkte belebend, immerhin hob er den Kopf und blickte auf das Papier in der Einlaufmappe. Aber sogleich beschloß er, sich die Arbeit erst nach dem Kaffee anzusehen, wenn er Socken und Schuhe wieder anhatte. Margarete Scherbler goß die schwarze Brühe in seine Tasse, dann nahm sie die Socken, drückte sie gegen ihre Wange, sie waren noch feucht. Flink drehte sie die Socken um und legte sie wieder auf die Heizung. Sie sagte nichts, sie kannte die Probleme ihres Chefs. Auch sie hatte ihre Probleme, aber von denen hatte er schon gar keine Ahnung.
    Hammerlang schlürfte den Kaffee geräuschvoll. Die Zeiten, da er sich vor seiner Sekretärin wie ein Gentleman benahm, waren lang vorbei. Dann gab sie ihm die Socken, er zog sie an und auch die Schuhe, empfand die plötzliche Wärme an seinen Füßen angenehm, und seine Laune besserte sich merklich.
    Den Postmord von gestern hatte also jetzt er am Hals. Das Sicherheitsbüro hatte ihm den Fall angehängt, weil es sich allen Anzeichen nach – um einen Agentenmord handelte, der in den Zuständigkeitsbereich der Staatspolizei fiel. Natürlich hatte ihm das Sicherheitsbüro die Aufgabe in erster Linie deswegen übertragen, weil von einem Täter weit und breit keine Spur war. Wenn eine Aufklärung in Aussicht stand, waren die vom Sicherheitsbüro nicht so kompetenzkleinlich. Da übernahmen sie den Fall schon selbst. »Noch Kaffee, Gretl«, sagte er, aber das wäre auch nicht nötig gewesen, Margarete Scherbler hatte die Kanne schon in der Hand. Immerhin, von dem sogenannten Postmord kannte er viele Details, die sonst niemand kannte. Das war auch etwas, und vielleicht hatten diese protzigen Hunde vom Sicherheitsbüro diesmal einen Fehler gemacht. Wenn er den Fall nicht klären konnte, wer dann? Ihm war der Ermordete persönlich bekannt, und er wußte eine ganze Menge über ihn, wovon die im Sicherheitsbüro keine Ahnung hatten. »Der Prokesch soll um zehn bei mir sein«, sagte er. Margarete Scherbler nickte. »Um zehn«, sagte sie. Prokesch war sein bester Kriminalbeamter. Ein eigenwilliger Mensch, aber Hammerlang mochte ihn. Mit dem Sedlacek konnte er den Postmord nicht aufklären, das wußte er. Postmord. Genaugenommen war es ja ein Doppelmord, wenn man die Leiche im Kofferraum dazuzählte. »Danke, Gretl«, sagte er, und sie wußte, daß er jetzt allein sein wollte. An den Polstertüren raschelte es wieder, als sie sich hinauszwängte, und die rote Anzeigetafel im Vorzimmer sprang um auf das grüne »Chef ist frei«. Nicht nur den Ermordeten kannte Hammerlang gut, er wußte auch viel über sein Leben. Vor allem wußte er, daß Herbert Winkler unter anderem jahrelang für seinen Vorgänger, den alten Hofrat Rossmanek, gearbeitet hatte. Und da war noch etwas: Herbert Winkler arbeitete damals mit einem Partner zusammen, mit Wilhelm Weiss, der vor zehn Jahren in die USA ausgewandert war. Und er war der Mann, den er vor seiner Ermordung angerufen hatte, vom Hauptpostamt in der Postgasse. Vier Minuten lang hatte er telefoniert, laut Erhebungsbericht. Der Bericht war natürlich von Prokesch, Hammerlangs bestem Mann. Und auch seine Telexanfrage an FBI war erfolgreich. Wilhelm Weiss hatte am nächsten Tag nach Rom gebucht. Er war abgeflogen vom Kennedy Airport. Sogar die Italiener konnten Hammerlang helfen. Wilhelm Weiss befand sich im Expreß Rom – Wien, Ankunft Wien zehn Uhr dreißig. Wenn der langsame Sedlacek den Mann in sein Büro brachte, war mit einer Klärung des Falls zu rechnen. Wenn sie auch alle sagten, der alte Rossmanek sei einsame Spitze, unfähig war er, Hammerlang, ja auch nicht. Es war Zeit für den Frührapport. Hammerlang seufzte und trank seinen Kaffee aus. Dann ging er ins Konferenzzimmer.
    Gegen halb zwölf erschien Sedlacek mit bedeutungsvoller Miene in Hammerlangs Büro und meldete, daß er Herrn Weiss mitgebracht habe, der Herr sitze im Vorzimmer. »Laß in herein«, sagte der Polizeirat.
    Dann sahen sie sich wieder, nach zehn oder zwölf Jahren, wer wußte das schon genau.
    Sie schüttelten sich die Hände. Großer Gott, dachte Hammerlang, der Mann ist alt geworden. Himmel, dachte Bill, der Polizeirat ist alt geworden. Sie setzten sich.
    »Herbert Winkler wurde vorgestern, um vier Uhr dreißig in der Postgasse in Wien erschossen. Etwa zwei Minuten,

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