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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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Frau Kilian.« Und dann hatte sie wirklich nasse Augen, und ihm war übel. »Erich ist der Beste in unserer Klasse, wir wissen das alle«, würgte er kauend heraus und dachte plötzlich, daß dieses Butterbrot eine Seltenheit war, es gab ja nur Margarine in dieser Zeit und nur auf Lebensmittelmarken; am liebsten wäre er davongerannt.
    Erich begleitete ihn die Stiegen hinunter, und Willi fragte, ob er die Mathematikaufgabe abschreiben dürfe, er müsse jetzt zum Training und habe dann keine Zeit mehr. »Gib mir dein Heft«, meinte Kilian, »ich mache deine Schrift nach.« Vor dem Haustor gab ihm Willi das Heft und hatte das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen. Er erinnerte sich an die zahllosen Szenen in den Schulpausen, wenn Zwinker-Erich von körperlich stärkeren Kameraden herumgestoßen worden war und sagte dann: »Der Kersch und ich und die anderen …«
    Kilian zwinkerte.
    »Der Kersch und ich und die anderen, wir meinen, weißt du, der Kersch und ich und die Mannschaft, verstehst du …«
    »Danke«, sagte Erich Kilian.
    »Wir werden jeden verprügeln, der dich angreift, verstehst du.«
    »Danke«, sagte Erich Kilian.
    Willi schwang sich aufs Rad, und es war ihm mies, aber immerhin, seine Mathematikaufgabe war kein Problem mehr.
    Das dritte Nachspiel allerdings war von ganz anderer Art, so geschehen 1947, also fünf Jahre später. Der Zug hielt wieder, und es gab viel Lärm auf den Bahnsteigen und viel Bewegung in den Waggons. Regen prasselte gegen das Fensterglas. Einen Moment dachte er, daß es Tarvisio, die Grenzstation, sein müßte, aber dann hörte er die Durchsage durch den Bahnhoflautsprecher, »Venezia, Venezia«, sagte eine müde Stimme. Er war also in Venedig, und es war höchste Zeit zu schlafen. Morgen würde er in Wien bei Herbert sein und ein neues Leben würde beginnen. Oder würde es das alte Leben sein, nach zehnjähriger Unterbrechung? Bill hatte nichts dagegen.
    Ja, 1947 war Erich Kilian Leutnant der Roten Armee und saß in der Kommandantur der sowjetischen Besatzungsmacht in Wien, im 1. Bezirk, in der »Bellaria« auf der Ringstraße. Leutnant Kilian hatte ein kleines Zimmer mit einem großen Schreibtisch, der früher in der Gauleitung der NSDAP gestanden hatte. An der Wand hing ein Bild Stalins und daneben eines von Kilians Vater. Der schmalbrüstige Leutnant mit dem nervösen Zucken um die Augen verhörte zuerst hauptsächlich große Nazifunktionäre, später kleinere und noch später amerikanische Spione. Oder Leute, die einfach kommunistenfeindlich waren und deshalb Spione sein mußten. Und sie alle logen, wenn Genosse Kilian seine Fragen stellte. Und der junge Leutnant glühte vor Haß, wenn er belogen wurde. Er dachte an seinen Vater, der das Bewährungsbataillon nicht überlebt, an seine Mutter, die die Todesnachricht ihres Mannes nicht überstanden hatte, und dann kam es schon vor, daß der Leutnant seinen Schulterriemen abschnallte und auf den Häftling eindrosch wie verrückt. Und die Tränen rannen über seine hohlen Wangen, so zornig war er, und sein Herz klopfte wie rasend. Die Häftlinge schrien und schützten empfindliche Körperstellen.
    Ernstlich zu Schaden kam keiner, der Leutnant mit seinen dünnen Armen konnte nicht recht zuschlagen. Erfahrene Mediziner hätten die Gefahr eines Herzanfalles für den überreizten Leutnant für gefährlicher gehalten. Damals trafen sie sich wieder, Willi Weiss und Erich Kilian, ehemals Schüler des Erzherzog-Karl-Bundesrealgymnasiums, später hieß der graue Kasten Oberschule für Jungen. Sie trafen sich in einem kleinen Café, beim »Pisani«, Kilian, der Leutnant der Roten Armee, und Willi Weiss, der Heimkehrer. Und es war kein Zufall, daß sie sich dort trafen. Damals war Hofrat Rossmanek schon Chef der Wiener Staatspolizei, und Wilhelm Weiss arbeitete für ihn. Der alte Hofrat – damals war er eigentlich noch gar nicht so alt – wollte immer alles ganz genau wissen, und den Lebenslauf von Willi Weiss ließ er sich ein halbes dutzendmal schreiben und mündlich vortragen. Das war keine große Arbeit für Willi, denn mit zweiundzwanzig Jahren gibt’s keine langen Lebensläufe. Eines Tages zeigte ihm Hofrat Rossmanek ein Klassenfoto. Wilhelm Weiss erkannte darauf sich selber, die ganze Fußballmannschaft und Zwinker-Kilian. Ein zweites Foto von Leutnant Kilian in russischer Uniform überraschte Willi sehr. Rossmanek gab ihm Geld, und die nächsten Wochen hatte Willi nichts anderes zu tun, als im »Pisani« herumzusitzen. Es war

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