Das Archiv
hast, etwa dieser Makkaroni-Roberto mit seinen Bambini?«
»Ja«, meinte Bill damals, das glaube er. Sicher war er natürlich nicht, im Gegenteil. Es wäre ihm gar nicht der Gedanke gekommen, Mr. Ravalico um eine Gefälligkeit dieser Art zu bitten. Immerhin, er hatte doch das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Was bedeuteten schon die paar Überstunden im Nachbardistrikt. Deswegen sollte er ein Schwächling sein? Oder etwa doch? Im harten amerikanischen Busineßdenken war das offenbar anders. Sonja Tamara Beizin!
Am siebenundzwanzigsten Dezember 1975 um zehn Uhr vormittags wußte Bill, was er zu tun hatte. Er stand auf, rasierte sich und duschte eine halbe Stunde so heiß er es ertragen konnte. Dann ging er ins Kaffeehaus um die Ecke, um Zeitungen zu lesen. Unterwegs pfiff er eine Melodie aus der Oper Nabucco von Giuseppe Verdi.
In diesen kalten Tagen des beginnenden Jänner 1976 marschierte Bill Weiss oft stundenlang durch die windigen Straßen der Innenstadt, den Mantelkragen hochgestellt, ohne Hut. Er trug einen Ledermantel, der nicht sehr wärmte, weder Pelz- noch Innenfutter hatte, auch war es kein neuer Mantel, eher altmodisch im Schnitt und abgeschabt an Ellbogen und Taschen. Es war Herberts Mantel, um genau zu sein.
Manchmal pfiff er sich eins durch die kälteklappernden Zähne, immer dieselbe Melodie, diese Arie von Verdi, fast unhörbar, denn seine Lippen waren starr vor Kälte, das Gesicht fleckig vom Frost. Zu anderen Zeiten hätten ihm die Leute nachgesehen, denn irgendwie sah er anders aus, anders als die anderen, und lag’s nur am fehlenden Hut oder am altmodischen Mantel. Die Kälte zog bis in die Knochen, und die Menschen hatten es eilig, in die warmen Stuben zu kommen, blieben nicht stehen und drehten sich nicht um.
Es war gleich nach den Weihnachtsfeiertagen gewesen. Bill war in die Zentrale der Hypo-Bank gegangen und zielstrebig auf ein Tresorfach mit der Nummer 1529 zugesteuert, hatte aufgesperrt und eine Ledermappe herausgenommen. Im Tresorraum hatte er sich an ein Tischchen gesetzt, den Inhalt der Tasche kurz überprüft. Dann hatte er die Tasche wieder im Tresorfach versperrt, war in die Kälte hinausgegangen, aber ohne zu pfeifen, weil sein Mund, sein ganzes Gesicht ein einziges erstarrtes Grinsen war. Mit dem Tresorfachschlüssel mit der eingestanzten Nummer 1529 spielte er in der Manteltasche. Es war der Schlüssel aus Herberts Plastikmappe, die er von Maria bekommen hatte, und den Weg zum dazugehörigen Bankfach zu finden war keine kriminalistische Meisterleistung gewesen. Der Name der Bank war ebenfalls angegeben, unterhalb der Nummer.
Observation ist auch so ein Modewort für eine organisierte, vertrauliche Beobachtung. Zu Bills nachrichtendienstlicher Glanzzeit war der Ausdruck zwar schon geläufig, in Österreich sagte man damals aber noch anders, abschmieren zum Beispiel oder ausspechteln. (Was sich von spähen ableitet.) Solche Observanten nun hätten sich in diesen Tagen oft gegenseitig in die Augen gesehen und bedeutungsvoll an die Schläfen getippt, wäre Bill Weiss das Objekt ihrer Tätigkeit gewesen. Aber das war nicht der Fall. Bill war nach seinen Kreuz- und Quermärschen durch Wiens Innenstadt ganz sicher, daß er »keinen Schwanz hatte«, mit anderen Worten, daß ihm niemand folgte. Das beruhigte ihn und paßte auch genau zu seinen Überlegungen. In der Tat, das bedeutungsvolle Schläfentippen wäre angebracht gewesen, denn wie ein normaler Mensch verhielt sich dieser Bill Weiss nicht.
So kam es häufig vor, daß er von den frostklirrenden Straßen in eine der nächsten Kneipen stürmte, unvorhergesehen, doch nicht unmotiviert – denn fünfzehn Grad minus sind schon Grund genug –, behaglich das stickige aber warme Luftgemisch aus Zigarettenrauch, Rumdunst und Gulaschsuppengeruch inhalierte und dabei glückselig dreinsah, dann aber, nach heißem Tee und doppeltem Rum, in der Einsamkeit einer Männertoilette händewaschend und vor dem Wandspiegel, minutenlang düstere Monologe hielt: »Das Spiel ist aus, Bill Weiss. Ein Mann muß wissen, wann Schluß ist. Verstehe, in diese Welt passe ich nicht mehr. Ein Leben ohne Sinn ist nicht wert, gelebt zu werden.« Sein Gesicht hatte dann den Ausdruck eines manisch Depressiven nach drei mißglückten dilettantischen Selbstmordversuchen. Doch wenn er dann beim Zahlen mit der Kellnerin scherzte, war schwer vorstellbar, daß es sich dabei um denselben Menschen handelte, der noch vor Minuten beim Anblick seines Spiegelbildes
Weitere Kostenlose Bücher