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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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nur auf, um sein Glas zu füllen, eine Zigarette anzuzünden oder ein paar Brocken von einem Brotwecken abzubeißen. Oder aus anderen menschlichen Bedürfnissen. Er trank Wein, sein Vorrat war ausreichend, trotz der rapiden Zunahme der leeren Flaschen im Badezimmer. Der Brotwecken hingegen wurde kaum kleiner, nur trockener mit jeder Stunde. Bill trank und dachte nach, versuchte seine Situation zu analysieren und einen Weg zu finden. Es war schwierig, und wenn seine Gedanken sich verirrten, verknoteten, füllte er sein Glas erneut und begann von vorne, wie er es früher immer getan hatte. Es fiel ihm alles verdammt schwer. Aber, bevor man nicht klarsieht, wo man steht, soll man keine Schritte unternehmen. So hatte Rossmanek immer gesagt. Und, »es ist mit der Gedankenfabrik wie mit einem Webermeisterstück«, so hatte Goethe angeblich einmal gesagt. »Wo ein Schlag tausend Fäden regt, die Schifflein hinüber-, herüberschießen …« Nun, Bills Gedankenfabrik produzierte nur mühsam ein Webermeisterstück, und wie gesagt, er mußte immer wieder von vorne anfangen. Sonja Tamara Beizin.
    Seine Top-Agentin, sein Geschöpf, seine Haupt-Einnahmequelle, sein ganzer Stolz. Der Mensch, den zu formen er geglaubt hatte, zu modellieren, zu dirigieren. Jahrelang. Nun die Erkenntnis, daß alles nicht stimmte, alles ganz anders war. Eine Erkenntnis, die nicht bitter war, nur höchst erstaunlich. Und Rossmanek hatte alles gewußt, von Anfang an oder fast von Anfang an. Hatte mitgespielt, er wird seine Gründe gehabt haben. Das alles war zu verstehen, die abnormalen Gesetze von Geheimdiensten berücksichtigend.
    Und nun dieser Anruf.
    Sie war wieder da. Sicherlich von weit hergeholt. Warum? Was war ihre Aufgabe, was war im Gange? Das war eine der Stationen, an der Bills Fäden in seiner Gedankenfabrik sich zu verknoten begannen, das Webermeisterstück unordentliche Muster bekam, er wieder von vorne beginnen mußte.
    Manchmal schlief er ein, sein Gehirn lief dann weiter wie ein Motor, den man nicht abstellen konnte, seine Gedanken formten sich zu Träumen, diese wieder zu Gedanken, wenn er den brennenden Schmerz seiner abgebrannten Zigarette zwischen den Fingern verspürte. Am zweiten Tag wußte er, daß er verloren war, wenn er sich mit Sonja traf, ohne genau zu wissen, was zu tun war, wenn er aufgab. Er fühlte die Müdigkeit, den starken Wunsch, einfach alles laufenzulassen, stand auf, fluchte, schimpfte sich einen Schwächling. Plötzlich mußte er an Joan denken, mit der er schließlich nach dem Gesetz immer noch verheiratet war. Er mußte an seine Frau denken und an eine Szene, eine von vielen in den letzten fünf Jahren. Joan hatte ihn einen Schwächling genannt, wüst beschimpft, und letztlich war sie in ihrer Trunkenheit zu der Ansicht gelangt, eher wolle sie mit einem kriminellen Neger verheiratet sein als mit einem Schwächling.
    Das was zu einer Zeit, als er Joan nicht mehr ernst nehmen konnte, schon gar nicht, wenn sie getrunken hatte. Trotzdem schmerzte ihn dieser Vorwurf. Was war damals geschehen?
    Sein Kollege, der das Nachbargebiet in Brooklyn hatte, war zu ihm gekommen. Ein Italo-Amerikaner, den Bill eigentlich recht gut leiden mochte. Er hieß Roberto Ravalico. Roberto war in einer schlimmen Situation. Seine Frau schwanger, er geschlechtskrank, kein Geld im Haus, da brauchte er dringend jemanden, der für ihn ein paar Tage oder Wochen seinen Job in seinem Distrikt übernahm. Denn einfach sieben oder zehn Tage lautlos in einem Hospital zu verschwinden, war in diesem Beruf nicht drin, da war er seinen Job los. Roberto bat Bill, ihn zu vertreten. Ohne Aufsehen natürlich, gewissermaßen »out of records«. Für Bill war so was selbstverständlich gewesen. Nicht wegen des Glorienscheins, aber wer konnte wissen, ob nicht auch er einmal in so eine Sackgasse geraten würde. Immer gut, dann jemanden zu haben, der o.k. sagte und nicht lange herumredete. Joan war da anderer Ansicht.
    Sie meinte – und das war natürlich richtig –, wenn Bill hart gespielt hätte, wäre Roberto »out«, und für Bill wäre es eine echte Chance, zu seinem kleinen Distrikt unblutig das Nebengebiet Robertos zu bekommen. Das bedeutete zwar mehr Arbeit, aber auch mehr Geld.
    Weil er das nicht machte, aus Freundschaft zu einem Mann, dem er eigentlich nicht verpflichtet war, war er in Joans Augen ein Schwächling.
    Er hörte ihre kreischende Stimme: »Du Idiot, du hoffnungsloser Trottel, wer wird sich um dich kümmern, wenn du Schwierigkeiten

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