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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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zwei Monate. Dann ließ der schöne Miro die Hosen fallen. Nicht im wörtlichen Sinne – das war schon vorher geschehen –, gemeint ist damit im Jargon der Nachrichtendienste der Zeitpunkt der Deklarierung eines Agenten. Er deklarierte sich also: für den Weltfrieden, für den Sozialismus. Für den Weltfrieden müsse etwas getan werden. Jede Mitarbeit sei wichtig und jede Information. Margarete Scherbler erinnerte sich an seine glühenden Augen, seinen leidenschaftlichen Vortrag. Die geliebte Margareta, seine Margareta, sitze ja immerhin auf einem interessanten Posten bei der österreichischen Staatspolizei. Und natürlich schade ihre Mitarbeit keineswegs den österreichischen Interessen, ganz im Gegenteil.
    Nicht, daß er etwa von Margaretas Position schon vorher gewußt habe. Nicht, daß seine Liebe geheuchelt war. Sie müsse ihm vertrauen, ihm glauben.
    Margarete Scherbler hatte gelächelt und sein Temperament genossen. Geglaubt hatte sie ihm kein Wort. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, ihrem Chef zu beichten. Aber dann wäre das Büroverhältnis mit Hammerlang, damals zwar schon weniger leidenschaftlich, wahrscheinlich zu Ende gewesen. Und das Verhältnis mit Miro, damals noch sehr leidenschaftlich, wäre ganz sicher zu Ende gewesen. Ein solches Risiko einzugehen erschien ihr in dieser Phase ihres so eintönigen Lebens unzumutbar. Margarete Scherbler beobachtete feindselig den alten Mann in der Telefonzelle, der umständlich eine Münze einwarf und dann so langsam wählte, als ob er bei jeder Nummer ein mathematisches Problem lösen würde. Diese Telefonzelle war die einzige Verbindungsmöglichkeit zu Miro, die ihr geblieben war. Genauer gesagt war es das angekettete Telefonbuch dieser Telefonzelle. Sie rechnete: Heute war der dreiundzwanzigste Dezember 1975. Dreiundzwanzig und zwölf sind fünfunddreißig. Das Jahr 1975 hat die Quersumme zweiundzwanzig. Fünfunddreißig und zweiundzwanzig macht siebenundfünfzig. Auf Seite siebenundfünfzig dieses Telefonbuches hatte sie also heute nachzusehen. Wie sehr Margarete Scherbler diese Geheimdienst-Methoden verachtete! Was für ein Unsinn das war! Miro hätte im Büro anrufen können, wie jeder normale Mensch, hätte sagen können: »Hör zu Schatz, ich besuch’ dich heute abend.« Aber nein, das ging ja nicht in der geheimdienstlichen Welt, die mußten immer um die Ecke denken. »Komm schon, alter Trottel«, murmelte Margarete Scherbler vor sich hin. Umständlich drehte sich der Alte endlich ins Freie. Seinen Hut hatte er liegengelassen. Er entschuldigte sich überschwenglich.
    Margarete Scherbler hatte jetzt rote Flecken am Hals. Seit drei Wochen hatte sie keine Nachricht von Miro. Drei Wochen lang hatte sie jeden Tag in dieser Telefonzelle nachgesehen. Was bildete sich dieser Kerl überhaupt ein? Sie warf einen Schilling in den Geldschlitz, tat so, als ob sie telefonierte und blätterte dabei im Telefonbuch. Seite 57.
    Rechts oben entdeckte sie in roter Schrift die Ziffer zweiundzwanzig. Gott sei Dank! Miro würde heute um zweiundzwanzig Uhr zu ihr kommen. Wäre ja noch schöner, wenn er sie die ganzen Feiertage über allein gelassen hätte. Jetzt hatte sie es eilig. Sie mußte noch einkaufen für ein Abendessen zu zweit.

 

    XVIII
    Eine Fliege kroch über die Tischplatte. Mit einer Handbewegung wollte Bill sie verscheuchen, aber das Tier reagierte nicht. Langsam und ein wenig taumelig kroch es weiter. Fasziniert folgte Bill nun diesem schwarzen Punkt, der sich dem Aschenbecher näherte. Sicher war die Fliege schon so altersschwach, daß sie ihre Flügel nicht mehr gebrauchen konnte. Kurz vor dem Sterben. Bill blies Zigarettenrauch auf den schwarzen Punkt. Die Fliege blieb stehen, zitterte leicht mit den Flügeln, dann kroch sie weiter, schon mehr tot als lebendig.
    Wie alt werden Stubenfliegen? Sie mag seinen Freund noch gekannt haben. Vielleicht hatte sie Herbert geärgert, als sie noch jung und agil war, fröhlich vor seiner Nase herumsurrte und nicht zu fangen war. Jetzt war sie alt und schwach und wartete auf ihr Ende. Der Aschenbecher war ein unüberwindliches Hindernis, wieder blieb das Tier stehen. Bill nahm einen kräftigen Schluck. »Es geht mir wie der Fliege, ich weiß auch nicht, wie ich weiterkommen soll.« War es nicht ein Wahnsinn gewesen, sich hier auf den alten Job einzulassen?
    Aber was sonst hätte er tun sollen?
    Die Aussichtslosigkeit, die Sinnlosigkeit seiner Situation wurde ihm klar. Das Sinnlose seines ganzen Lebens stand ihm

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