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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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roter Papierlampion, der über dem Tisch hing. Sein Schimmer verwandelte sogar Bills aschgraues Gesicht zu Bronze. Haifischflossen, Reis und »sweet and sour pork« wurden bestellt und statt Reiswein Gumpoldskirchner. Schließlich war auch der Kellner kein Schlitzauge, sondern sprach Vorstadtdialekt. »Wie war das mit Herbert«, fragte Sonja unvermittelt. Bill zog die Schultern hoch, als müßte er einen Angriff abwehren. »Ich weiß nicht mehr, als in den Zeitungen stand. Nicht viel mehr. Aber wie war das mit dir«, fragte er, »erklär mir, Genossin, wieso wir hier jetzt sitzen.« Bill schien ernst und mißtrauisch. Sonjas Erklärung war kurz, schlüssig und einleuchtend. Vor zwei Jahren sei sie wieder zur Botschaft nach Wien versetzt worden, in die Wirtschaftsabteilung. Zu ihren Aufgaben gehöre die Betreuung der Aeroflot und Intourist-Reisebüros. Deshalb arbeite sie meist in den Büros in Frankfurt und München. In Wien habe sie eine kleine Wohnung, erwähnte sie beiläufig. Sie habe Herbert in Wien getroffen, »aber nur privat, nicht so wie früher, du verstehst.« Seit einem halben Jahr habe sie Herbert nicht mehr gesehen, aus den Zeitungen habe sie von seiner Ermordung erfahren. Sie hatte das Gefühl, daß er Willi, nun vielleicht in Wien auftauchen könnte. Deshalb ihr Anruf in der Wohnung Herberts. »Ihr wart doch früher wie Brüder«, sagte sie und legte die Hand auf seinen Unterarm. »Mein Gott, auf was hatte Herbert sich da eingelassen. Konnte er nicht endlich aufhören mit dem Job, so wie du?« Sie hatte tatsächlich feuchte Augen. »Der Teufel weiß, was er da laufen hatte, der alte Scheich«, sagte Bill düster. Er bestellte eine neue Flasche und fragte sich, ob er diese Geschichte ohne Kenntnis von Rossmaneks Notizbüchern geglaubt hätte. Was er jetzt so vorhabe, tun werde, wollte Sonja wissen. Herbert habe ihr erzählt, die Ehe in Brooklyn sei nicht gerade bestens gewesen.
    Zurück in die Staaten gehe er nicht mehr, das komme nicht in Frage. Bill hatte nun diesen düsteren Gesichtsausdruck, wie bei seinen depressiven Selbstgesprächen vor den Spiegeln der Männerklos. »Am liebsten würde ich zu Herbert gehen, wo immer er jetzt ist«, murmelte er kaum vernehmbar und starrte in sein Weinglas.
    »Sag doch so was nicht, Willi. Das Leben geht doch weiter.« Ihre Stimme klang besorgt. Sie drückte seinen Unterarm. »Willi, halt mir doch einen deiner berühmten Monologe über Marxismus und so. Wie früher, weißt du noch, wie wir gelacht haben?«
    Bill rührte sich nicht, starrte weiter in sein Glas. »Mein Gott, erinnere dich, was haben wir getrunken und gelacht, wie glücklich waren wir. Das Leben war ein einziger Spaß! Was ist denn aus dir geworden, du bist doch derselbe Mensch!«
    Bill erinnerte sich. Aber da war Rossmaneks Notizbuch in seiner Tasche. Und Herbert war tot. Trotzdem war es Zeit einzulenken.
    »Jesus, haben wir gelacht, früher, erinnerst du dich …« Es gab tausend Dinge, an die sie sich erinnerten. Eine Geschichte forderte die andere heraus. Sie wurden fröhlicher, lauter, betrunkener … »… Lenin hat gesagt«, dozierte sie.
    »Lenin hat viel geredet«, sagte er. »Christus hat auch viel geredet und Goethe auch. Meine Tante Mitzi auch. Nur hat das niemand aufgeschrieben, was meine Mitzi-Tante geredet hat. Als Anwalt meiner Tante stelle ich die Behauptung auf, daß ihr leider verlustig gewordenes Redepotential für die Menschheit ebenso bedeutsam hätte sein können wie das Lenins oder Maos. Oder Travnitscheks.«
    »Kennst du Travnitschek?« fragte er. Die Genossin kannte keinen Travnitschek. »Wie schade«, meinte Willi und sah todernst in sein Weinglas. Von Travnitschek wollte Sonja nichts wissen. »Erzähl mir von den Philosophen, Willi. Deine Geschichten über Philosophie, ich hab’ mich immer halb totgelacht. Erinnerst du dich? Erzähl’ mir von Hegel und Feuerbach.« Sie konnte bitten wie ein Kind um eine Gute-Nacht-Geschichte. Hegel und Feuerbach waren Clowns gegen Travnitschek, murrte Bill, aber langsam kam er in Fahrt: »Als geschulte Kommunistin ist dir doch die Hegelianische Theorie nicht unbekannt?«
    Die Genossin nickte überheblich.
    »Stimmt es also, daß Hegels Theorie die Grundlage der bei den Kommunisten so geschätzten Diskussion bildet? These, Antithese, Synthese. Also: Man behauptet etwas, These.
    Man behauptet das Gegenteil, Antithese. Man zieht die Schlüsse aus diesen Behauptungen, diskutiert sie und findet das Gemeinsame, die Synthese. Und das ist

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