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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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waren diese Dokumente »der erste Beweis dafür, daß alle linken Terroristenorganisationen das Resultat eines Langfristprogrammes des KGB und zentral gesteuert waren.« Die Schreibmaschinenseiten waren Rossmaneks Auswertung. »Nur ein Exemplar, kein Durchschlag«, las Bill links oben auf der ersten Seite. Dann folgten Namenlisten, Legenden, Querverbindungen, rekonstruierte Lebensläufe, Adressen, Anlaufstellen, Kurierwege, Bankverbindungen. Eine irrsinnige Arbeit mußte das gewesen sein, dachte Bill. Einhundertvierzig Seiten Auswertung, Resultat jahrelanger Recherchen. Darum also ging es. Das war das Zeug, hinter dem die Herren Geheimdienstler so fanatisch her waren. So hektisch und brutal, daß Menschenleben dabei offenbar keine Rolle spielten. Die stenografierten Tagebuchaufzeichnungen des alten Rossmanek waren ganz was anderes. Von seinem Freund Herbert irgendwie ins Spiel gebracht, um abzulenken. Eine falsche Fährte legen, das sah Herbert ähnlich. Es entsprach ganz seiner Cleverness.
    Die Welt sah plötzlich anders aus für Bill White, alias Wilhelm Weiss. Er mußte an Zwinker-Kilian denken und daran, daß sein alter Schulfreund wahrscheinlich schon ein toter Mann war. Aber daran war nichts mehr zu ändern.
    Schließlich ist jedem das Hemd näher als der Rock. Der angekündigte Telefonanruf von Sonja kam wie erwartet in aller Frühe. Bill war gerade beim Zähneputzen. »Für einige Tage, vielleicht auch für zwei Wochen«, so sagte sie, werde sie in Wien bleiben. Ja, sie sei beruflich hier, sie werde alles ausführlich erzählen, wenn er Zeit habe, sie zu treffen. Sie verabredeten sich für den gleichen Abend im Café Douglas, ein Lokal, das sie beide von früher kannten.
    Café Douglas in der Wollzeile ist eines der wenigen Alt-Wiener Kaffeehäuser, die von den erbarmungslosen Machenschaften der Versicherungen und Banken verschont geblieben sind. Es war schon dunkel, als Bill ankam, die Straßenbeleuchtung war eingeschaltet. Die großen Fensterscheiben des Kaffeehauses waren hell erleuchtet, und man sah die zeitungslesenden Gäste von der Straße aus, die Kellnerin hatte noch keine Zeit gefunden, die Vorhänge zuzuziehen. Neugierig sah Bill durch die Scheiben, immerhin hatte er Sonja mehr als zehn Jahre nicht gesehen. Er erkannte sie sofort, noch von der Straße aus. Sie schien ihm kaum verändert, aber ihr Gesichtsausdruck war ihm neu und ungewohnt. Sie starrte in eine Zeitung, aber man merkte, daß sie nicht las, merkwürdig starr und abwesend war dieses Gesicht, und eine Sekunde lang erinnerte sich Bill an diese haschischsüchtigen jungen Menschen Brooklyns. Es war sonderbar, denn nichts Gegensätzlicheres gab es als einen langhaarigen Bluejeans-Hippie, der »high« oder »on Trip« war und die ehemalige Komsomolzin Sonja Tamara Beizin. Bill kannte natürlich ihr Alter, sie war jetzt achtunddreißig. Diese Frau war schwer zu schätzen, man hätte sie für wesentlich jünger, aber auch für vierzig halten können. Sie hatte aschblondes, streng zurückgekämmtes Haar, hellgraue, harte Augen, betonte Backenknochen, einen breiten vollen Mund und makellose Zähne. Sie trug ein graues Kostüm, eine Pelzjacke hing über dem Sessel. Eleganter als früher, dachte Bill, vielleicht auch eine Spur fülliger als vor zehn Jahren.
    »Servus Genossin«, sagte Bill, und es sollte unbefangen klingen, so wie früher. Sie stand auf und küßte seine Wangen. »Grüß dich, du grauer Schuft«, sagte sie. So wie früher.
    Sie saßen sich gegenüber und lächelten sich zu. »Gut siehst du aus«, sagte er. »Ein bißchen fetter, aber viel mehr sexy. Und was seh’ ich denn da, sogar Lippenstift und Lidschatten? Du verrottete Komsomolzin, hat man das jetzt im Fünfjahresplan? Und dein Kleid ist teurer als dreihundert Arbeitskittel für die Genossinnen der Traktorfabrik in Wischinorschow. Bist du abtrünnig geworden, eine Renegatin?« Sie lachte. »Mies siehst du aus«, sagte sie. »Versoffen und verhurt. Drei Jahre Zwangsarbeit in Sibirien würden dir guttun. Die frische Luft der Tundra und körperliche Arbeit! Gibt es keine Sonne in New York? Lebst du in einem Kellerloch?«
    Sie beschlossen, essen zu gehen. »Ich kenne deine Verachtung für Mao Tse Tung und die Schlitzaugen«, grinste er. »Aber wie wäre es mit dem China-Restaurant, fünf Minuten von hier?« Sie stimmte zu unter der Bedingung, daß sie nicht mit Stäbchen essen müsse.
    Stäbchen gab es keine, sondern Messer und Gabel, das einzig chinesisch anmutende war ein

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