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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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vor Augen. Was blieb ihm noch? Ein paar Jahre, dann würde er endgültig ein alter Mann sein. Am Ende, so wie die Fliege da. Alt und einsam.
    Was war noch zu erwarten? Krankheiten? Gebrechlichkeit? Langes Sitzen in Warteräumen von Ärzten? Es fiel ihm ein, daß er nicht sozialversichert war. Herberts Geld würde zu Ende gehen. Was dann? Bill schob den Aschenbecher zur Seite. Die Fliege bewegte sich nicht. »Dein Problem ist gelöst, Fliege, der Weg ist frei«, sagte Bill. Seine Stimme hing trostlos in dem rauchigen Raum.
    Er nahm wieder einen großen Schluck aus der Flasche. »Frohe Weihnachten, Fliege«, sagte er. Er zuckte heftig zusammen, als das Telefon läutete, und wurde im selben Moment wütend auf sich selbst, seiner schlechten Nerven wegen. Sein zorniges »Hallo« klang gar nicht weihnachtlich, und den Hörer hielt er nur widerwillig ans Ohr.
    Es war Maria Sommer.
    Sie übergab den kleinen Herbert, der sich artig für das Weihnachtsgeschenk bedankte. Es kostete Bill den letzten Rest seiner Selbstbeherrschung, ein paar freundliche Worte zu sagen. Dann war wieder die Mutter am Apparat. Wie es ihm gehe, wollte sie wissen.
    »Großartig«, sagte Bill. »Ich sitze unter dem Weihnachtsbaum und feiere mit einem lieben Gast.« Er blies wieder Zigarettenrauch auf die Fliege. »Es geht Ihnen also schlecht«, hörte er Frau Maria sagen. »Sie sollten die Mitternachtsmette besuchen. Sie sollten versuchen, den Glauben wiederzufinden.«
    »Aber ich glaube doch, Schwester Maria, Schwester im Herrn.« Jetzt tat es ihm gut, diese Heilige beleidigen zu können. »Ich glaube an die Allmacht Gottes, an die Wirkung einer 7.65er und daran, daß ich bald besoffen sein werde. So wahr mir Gott helfe, Amen.«
    »Sie werden so enden wie Herbert«, hörte er diese traurige Stimme.
    »Gottes Wille geschehe«, höhnte er, es klang häßlich. »Amen«, er legte den Hörer auf. Die Fliege kroch jetzt in kleinen Kreisen auf der Tischplatte. »Erzähl mir was von Herbert, Fliege«, sagte er, »hat er diese heilige Schwester Maria wirklich geliebt? War sie immer schon so heilig? Warum hat er mir nie von ihr erzählt? Du weißt es doch, Fliege, du hast doch mit ihm hier gelebt. Sag’s mir doch in der Fliegensprache, ich versteh’ dich schon.« Er trank wieder. Der Whisky war jetzt warm.
    Glauben! dachte er. Wenn man das noch könnte! An einen Gott glauben und an einen Sinn des Lebens. Jetzt beneidete er diese Frau und schämte sich. Die Fliege stand jetzt still und rührte sich nicht. Von irgendwo hörte er Menschen singen, von der stillen, der heiligen Nacht. Es waren Kinderstimmen. Es fiel ihm ein, daß auch er als Kind immer singen mußte unter dem Lichterbaum. Vor der Bescherung. Er sah plötzlich all diese Kinderaugen, wie sie erwartungsvoll in die brennenden Kerzen blickten. Die Welt war voll von guten, lieben Kindern. Woher kamen nur all diese miesen, erwachsenen Menschen? Die Flasche war nun fast leer. »Zeit zum Schlafen, Fliege«, sagte Bill. Er berührte sie zart mit dem kleinen Finger. Sie fiel auf den Rücken, ein trockener, leichter, schwarzer Punkt. Sie war tot.
    Er trank den Rest der Flasche in einem Zug leer und fiel aufs Bett. Er hatte nur den einzigen, innigen Wunsch, nie wieder aufzuwachen.
    Seine wirren Träume glitten in wirre Gedanken. Das Telefon, es mußte schon seit einer Weile läuten. Wie sonderbar, er erkannte ihre Stimme in der ersten Sekunde.
    Auch er freue sich, sagte er. Ja, er sei wieder in Wien. Ja, das von Herbert sei sehr traurig. Von wo? Ah, von München telefoniere sie! »Natürlich müssen wir uns mal sehen«, sagte er und blies die tote Fliege vom Tisch. »Nach den Feiertagen, sehr gut«, sagte Bill. »Nein, er sei nicht krank, nur heiser. Ja, betrunken sei er, zugegeben. Aber nicht krank. Ebenfalls alles Liebe zu den Feiertagen. Ja, er sei immer telefonisch erreichbar, am sichersten morgens.« Wirklich sonderbar, daß er ihre Stimme sofort erkannt hatte. Es war die Stimme Sonja Tamara Beizins gewesen.
    Die Feiertage, den 25. und 26. Dezember, verbrachte Bill überwiegend in seinem grauen Bett. Die Bettwäsche war seit Herberts Zeiten noch immer nicht gewechselt. Wer hätte das auch tun sollen? Eine Haushälterin hatte sich nicht gemeldet, und Bill hatte andere Probleme als die um frische Bettwäsche.
    Christa war schließlich auch nie dagewesen. Wenn er mit ihr geschlafen hatte, dann immer in ihrer aufgeräumten, mädchenhaft sauberen Bude. Das hatte sich so ergeben. An diesen beiden Tagen stand er

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