Das Attentat
unternehmen mußte. Um neun Uhr rief er in der Praxis seines Zahnarztes an, der ihn schon seit mehr als zwanzig Jahren behandelte, doch es meldete sich niemand. Nach kurzem Zögern wählte er die Privatnummer. Der Zahnarzt empfahl ihm, ein Aspirin zu nehmen, er habe heute keine Zeit für Zähne, da er gleich demonstrieren gehe.
»Demonstrieren? Wogegen?«
»Gegen die atomare Bewaffnung.«
»Aber ich krepiere vor Schmerzen.«
»Und woher kommen die so plötzlich?«
»Ich hab schon seit ein paar Tagen gespürt, daß was kommt.«
»Warum bist du dann nicht früher gekommen?«
»Ich war in München, auf einem Kongreß.«
»Hatten die Herren Kollegen von der Anästhesie dort nichts gegen Schmerzen? Müßtest du nicht eigentlich auch zu der Demonstration?«
»Pardon? Verschon mich bitte, das ist nichts für mich.«
»So? Aber Zahnschmerzen, ja? Hör gut zu, alter Freund. Auch ich demonstriere heute zum ersten Mal in meinem Leben. Ich helfe dir, meinetwegen, aber nur unter der Bedingung, daß du mitkommst.«
»Ich tu alles, was du willst, du Schuft, wenn du mir nur hilfst.«
Anton solle um halb zwölf in die Praxis kommen, sagte der Zahnarzt, die Assistentin sei zwar nicht da, die demonstriere ebenfalls, aber er werde sich schon zu helfen wissen.
Aus dem Wochenende in Gelderland, auf das Anton sich nach dem Aufenthalt in Deutschland so gefreut hatte, würde also nichts. Er sagte zu Liesbeth, sie solle alleine mit Peter fahren, aber sie wollte nicht im Traum daran denken. Wie eine Krankenschwester hielt sie ihm eine Untertasse hin: darauf lag ein runder Filter für die Kaffeemaschine und mittendrin ein dürrer, brauner, einen Zentimeter langer Stengel, der in einen winzigen Kelch mit einem Kügelchen auslief.
»Was ist das?«
»Eine Gewürznelke. Die mußt du in deinen Zahn stecken. In Indonesien hat man das immer so gemacht.«
Die Art, wie er sie plötzlich an sich drückte und dabei fast in Tränen auszubrechen schien, fand sie übertrieben.
»Komm, Ton, stell dich nicht so an.«
»Ich habe leider kein Loch im Zahn, ich weiß nicht, was es ist, aber ich werde sie essen.«
Es gelang ihm nicht, kauen war unmöglich. Unter Peters Beobachtung lief er mit vor Schmerzen offenem Mund durch das Haus wie der Gähnende über der Tür einer Amsterdamer Drogerie. Er dachte an die Friedensdemonstration, an der er gleich teilnehmen mußte. Er hatte etwas darüber gelesen, es sollte die größte in Europa werden, aber es war ihm weder in den Sinn gekommen, daran teilzunehmen, noch, nicht daran teilzunehmen: er hatte den Bericht zur Kenntnis genommen wie den Wetterbericht. So liefen die Dinge nun einmal. Das Jahr 2000 rückte näher, und die Angst vor der Dezimalwende schlug zu wie vor tausend Jahren. Atombomben waren zur Abschreckung da; nicht um eingesetzt zu werden, sondern um den Frieden zu bewahren. Schaffte man diese paradoxen Waffen ab, würden die Chancen für einen konventionellen Krieg, in dessen Endphase dann wahrscheinlich doch wieder Atomwaffen eingesetzt würden, größer. Selbst er fühlte sich unbehaglich, wenn er an die Verlautbarung des Alten aus Amerika dachte, daß auch ein begrenzter Atomkrieg denkbar sei, und zwar auf Europa begrenzt, dort aber total. Daß der Alte aus Rußland daraufhin gesagt hatte, davon könne nicht die Rede sein, denn dann würde er auf alle Fälle Amerika vernichten, war eine große Beruhigung für Anton gewesen. Aber auch das bedeutete, daß die Atomwaffen nicht abgeschafft werden durften.
Er saß auf dem Sofa, trank den Kamillentee, den Liesbeth ihm noch gekocht hatte, und versuchte, die Zeit mit einem Kreuzworträtsel zu vertreiben. Weiß der Sonnengott keine deutlichere Umschreibung dieses Elends? Sechs Buchstaben. Wenn er die Zähne nicht aufeinanderbeißen konnte, schien er nicht denken zu können. Er starrte auf das Rätsel, doch obwohl ihm klar war, daß es nicht schwer sein konnte, fiel ihm nichts ein.
Der Zahnarzt hatte seine Praxis in der Nähe von Antons früherer Wohnung, und Anton beschloß, um elf Uhr zu Fuß hinzugehen.
Es war kühl und bewölkt. Benommen vom Schmerz, der wie eine Schraube im Kiefer saß, ging er durch die Straßen, die immer belebter wurden; in der Ferne kreiste ein Hubschrauber. Autos und Straßenbahnen fuhren nicht mehr, scheinbar war das ganze Zentrum abgeriegelt worden. Auch die Fahrbahn war voller Menschen, die alle in die gleiche Richtung gingen, viele mit hochgehaltenen Spruchbändern. Es waren auch Ausländer dabei; er sah eine
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