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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Gruppe kriegerischer Männer mit Turbanen, weiten Hosen und Koppeln, an denen nur die Pistolen und Krummschwerter fehlten – vertriebene Kurden vielleicht, die lachend und singend in geschmeidigem Wüstenschritt hinter einem Spruchband mit arabischem Text marschierten. Wenn das ein Aufruf zum Dschihad, zum Heiligen Krieg wäre, dachte Anton, niemand würde es merken. Die Straßen waren bald so voll wie zuletzt im Mai 1945; lange Kolonnen zogen aus allen Richtungen kommend zum Museumplein. Die Aussicht, sich gleich unter all diese Menschen mischen zu müssen, machte seine Zahnschmerzen noch schlimmer. Was konnte nicht alles passieren, wenn eine Panik ausbrach oder Provokateure auftauchten, zur Zeit war ja alles möglich in Amsterdam! Abgesehen von dem Hubschrauber in der Luft, war zum Glück nirgendwo Polizei zu sehen.
    Er erreichte die Praxis und klingelte. Niemand öffnete ihm, leicht zitternd vor Kälte (oder weswegen auch immer) wartete er auf dem Bürgersteig. Der Sonnengott war selbstverständlich Ra, das konnte gar nicht anders sein. Ratlos? Rakete? Rafael? Rattern? Das wäre die Erweckung des Gottes. Rakiel? Das war das Schreibgerät des Sonnengottes, mit dem er seine Umschreibungen niederschrieb… Nicht weit von ihm überquerte die Menge in ununterbrochener Kette die Seitenstraße, in der er stand. Als der Zahnarzt ein paar Minuten später mit seinem Klumpfuß anmarschiert kam (seine Frau an seinem Arm), fing er laut an zu lachen.
    »Du siehst ja großartig aus!«
    »Ja, lach du nur«, sagte Anton. »Ein feiner Mediziner bist du, Gerrit-Jan, erpreßt deine Patienten.«
    »Alles im Dienste der Menschheit. Ganz im Geiste von Hippokrates.«
    Wohl aus diesem hippokratischen Anlaß hatte er sich in einen feudalen Jagdanzug geworfen und trug eine grüne Lodenjacke, grüne Knickerbocker und dunkelgrüne Strümpfe. Sein Klumpfuß war noch deutlicher zu sehen als sonst. Als sie ins Behandlungszimmer kamen, klingelte das Telefon.
    »O nein, das darf nicht wahr sein«, sagte van Lennep. »Nicht noch einer.«
    Es war Liesbeth. Auch Peter habe den Wunsch geäußert, zur Demonstration zu gehen. Anton sagte, dann solle er mit dem Fahrrad hierherkommen und draußen warten. Van Lennep hatte seine Jacke auf den Schreibtisch der Assistentin geworfen. »Dann laß mich mal sehen, alter Freund. Welcher ist es denn?« Während Frau von Lennep noch einmal zur Toilette ging – letzte Möglichkeit vor der Demonstration –, richtete er die Lampe auf Antons Mund und befühlte mit einem Finger den Zahn. Sofort tobte ein wilder Schmerz durch Antons Kopf. Van Lennep nahm ein graues Blättchen Papier, legte es auf den Zahn und sagte, Anton solle vorsichtig die Zähne aufeinandersetzen und langsam hin und her bewegen. Er schaute noch einmal auf den Zahn und nahm dann den Bohrer vom Haken. »Berufshalber«, sagte Anton, »plädiere ich für eine Spritze.«
    »Du bist wohl verrückt, bei so einer Kleinigkeit. Mund auf!«
    Anton verschränkte krampfhaft die Finger ineinander und versank – das graue, zur Seite gebürstete Haar des Arztes dicht vor den Augen – für zwei oder drei Sekunden in Schmerzen und Lärm.
    »Mach den Mund wieder zu«, sagte van Lennep.
    Das Wunder war geschehen. Der Schmerz verzog sich hinter den Horizont und verschwand, als hätte es ihn nie gegeben.
    »Wie ist das in Gottes Namen bloß möglich?«
    Van Lennep hängte den Bohrer in die Halterung und zuckte die Schultern.
    »Eine kleine Überbelastung. Er war ein wenig nach oben gekommen. Alterssache. Spül ein bißchen nach, und dann gehen wir.«
    »Schon fertig?« fragte seine Frau überrascht, als sie ins Zimmer kam.
    »Vermutlich denkt er jetzt«, sagte van Lennep mit schiefem Lachen, »daß unsere Verabredung nun nicht mehr gilt. Aber da irrt er sich.«
    Als sie draußen auf Peter warteten, sagte Anton:
    »Weißt du eigentlich, Gerrit-Jan, daß dies das zweite Mal ist, daß du eine politische Tat von mir verlangst? Der Unterschied ist nur, daß du diesmal auch selber beteiligt bist.«
    »Was war es denn beim ersten Mal?«
    »Damals hast du gemeint, ich sollte mich freiwillig als Soldat nach Korea melden, zum Kampf des christlichen Abendlandes gegen die kommunistischen Barbaren.«
    Frau van Lennep unterdrückte ein Lachen, und van Lennep sah Anton ein paar Sekunden lang schweigend an. Einige Straßen weiter dröhnte eine Stimme aus einem Lautsprecher.
    »Weißt du, was mit dir los ist, Steenwijk? Du hast ein viel zu gutes Gedächtnis. Wenn hier einer der

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