Das Attentat
jetzt ein großer Raum und an der Seite ein neues, breites Dachfenster. Auch vor dem Haus ganz rechts, in dem Aartsens gewohnt hatten, stand jetzt ein Schild und darauf der Name eines Notars. Keines der drei Häuser hatte noch seinen alten Namen; es fiel ihm schwer, sich zu erinnern, welches ›Schöne Aussicht‹ und welches ›Ruhehort‹ geheißen hatte. Nur daß die anderen Nachbarn, Kortewegs, in ›Niegedacht‹ gewohnt hatten, wußte er sofort wieder. Auf beiden Seiten waren neben den vier Häusern Bungalows errichtet worden, und auf den Feldern dahinter war ein neues Viertel entstanden samt Straßen und allem, was dazugehörte. Und auf der anderen Seite des Kanals, wo sich die Weiden bis nach Amsterdam ausgestreckt hatten, lag plötzlich ein ganz neuer Stadtteil mit Hochhäusern, Bürogebäuden und breiten, belebten Straßen in der Sonne. Nur direkt am Kanal standen noch einige alte Häuser und etwas weiter weg die Mühle.
Er erzählte Sandra, wie es hier früher ausgesehen hatte, aber er sah ihr an, daß sie sich das nicht vorstellen konnte – er hatte ihr auch nie begreiflich machen können, was ein Hungerwinter war. Während er auf der anderen Seite der Straße mit dem Fischgrätmuster zu beschreiben versuchte, wie ›Freiruh‹ ausgesehen hatte – er sah das alte Haus mit dem Reetdach und den Erkern wie von Geisterhand über dem neuen erstehen –, kam ein Mann in Jeans und nacktem Oberkörper aus dem Bungalow. Ob er vielleicht behilflich sein könne? Anton sagte, daß er seiner Tochter zeige, wo er früher gewohnt habe, woraufhin der Mann sie einlud, einen Moment hereinzukommen. Stommel heiße er. Sandra schaute ihren Vater fragend an: es war doch nicht dieses Haus, in dem er gewohnt hatte!, aber Anton spitzte die Lippen und kniff kurz die Augen zusammen, woraus sie schloß, daß sie es dabei belassen sollte. Stommel hatte seine Bemerkung vermutlich für die Ausrede eines potentiellen Käufers gehalten. Als sie die Straße überquerten, suchte Anton mit den Augen die Stelle auf dem Bürgersteig, konnte sie aber nicht mehr genau ausmachen.
In dem Haus war alles geräumig und hell. Wo der Flur gewesen war, das Wohnzimmer, das Eßzimmer mit dem Tisch unter der Lampe, die ganze Enge und Dunkelheit, lag nun von der gebeizten Wohnküche auf der einen Seite bis zu dem weißen Klavier auf der anderen ein hellblauer Teppichboden. In einer Ecke lagen zwei Jungen auf dem Bauch vor dem Fernseher und schauten nicht auf. Während Stommel auch die hellen Schlafzimmer im Anbau auf der Rückseite zeigte, erzählte er, daß er das Haus erst vor fünf Jahren gekauft habe, es nun aber leider umständehalber wieder abgeben müsse, jedoch bereit sei, auch einen Verlust zu akzeptieren. Sie machten ein paar Schritte in den Garten. Die Hecke, durch die er so oft gekrochen war, gab es nicht mehr; die Nachbarn im ehemaligen ›Niegedacht‹, ein gebräunter älterer Herr und eine weißhaarige indonesische Dame, saßen im Garten unter einem Sonnenschirm. Es dauerte einen Augenblick, bis Anton sie als das nette junge Paar von damals mit den beiden kleinen Kindern wiedererkannte. Geschminkt und zurechtgemacht erschien dann auch Frau Stommel und stellte sich als »Frau Stommel« vor. Übertrieben freundlich bot sie ihnen etwas zu trinken an, aber Anton bedankte sich für die Führung durch das Haus und verabschiedete sich. Bevor Stommel ihm die Hand gab, wischte er sie schnell an der Seite des Hosenbeines ab, ohne sie dadurch ganz trocken zu bekommen.
Untergehakt ging Anton mit Sandra zum Mahnmal am Ende der Uferstraße. Der Leinpfad hatte einer hölzernen Uferbefestigung weichen müssen. Die Rhododendren waren zu einer dichten Wand ausgewachsen, und die steinerne ägyptische Frau verwitterte unter schweren Blumenbüschen. Ungläubig schaute Sandra auf ihren Familiennamen in der Bronzeplatte. Es war ihr anzusehen, daß sie nie ganz begreifen würde, was damals geschehen war. Anton dagegen starrte einen Namen an, der unter dem seiner Mutter stand: J. Takes. Er erinnerte sich, daß Takes gesagt hatte, sein jüngster Bruder sei eine der Geiseln gewesen; aber er hatte nie daran gedacht, daß also auch sein Name hier stehen mußte. Er nickte mit dem Kopf, und Sandra fragte, was los sei. Er sagte: »Nichts.«
Später, als sie auf der vollen Terrasse eines Restaurants im Haarlemer Stadtpark saßen (wo früher die Garage der Ortskommandantur gewesen war, an der Stelle der Ortskommandantur stand jetzt ein Bankgebäude), erzählte er
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