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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Sandra zum ersten Mal von seinem Gespräch mit Truus Coster und von der Nacht im Keller unter der Polizeiwache von Heemstede, und dabei dachte er daran, daß er dort nie wieder gewesen war und auch jetzt nicht hingehen würde. Sandra verstand nicht, daß er so freundschaftlich von Truus Coster sprach: Ob es denn nicht eigentlich ihre Schuld gewesen sei, was alles passiert war! Anton spürte, daß er auf einmal sehr müde wurde. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Jeder hat getan, was er getan hat, und sonst nichts« und war im selben Moment ganz sicher, daß Truus Coster das wörtlich so zu ihm gesagt hatte, oder beinahe wörtlich – und dann, sofort danach, nach fast fünfunddreißig Jahren, hörte er plötzlich ihre Stimme, ganz leise und weit weg: »… Er glaubt, daß ich ihn nicht liebe, aber ich liebe ihn…« Er lauschte reglos, doch es wurde still. Kein Wort mehr. Seine Augen wurden feucht. Alles war noch da, nichts war verschwunden. Das Licht und der Frieden zwischen den hohen, geraden Buchen, die kleine Baumreihe da, wo die Panzersperre gestanden hatte. Hier war er mit Schulz in den Lastwagen gestiegen, und es hatte Eisnadeln geregnet. Er fühlte Sandras Hand auf seinem Arm, er legte seine Hand auf die ihre, aber er wagte nicht, sie anzusehen, weil er sonst vielleicht geweint hätte. Leise fragte Sandra, ob er schon einmal das Grab besucht hätte. Als er den Kopf schüttelte, schlug sie vor, es sofort zu tun.
    In einem Blumengeschäft wollte Sandra von ihrem Geld eine rote Rose kaufen, kam aber mit einer violetten, fast blauen heraus – die roten waren ausverkauft. Sie fuhren zum Ehrenfriedhof in den Dünen, parkten den Wagen neben ein paar anderen und gingen auf gewundenen Wegen auf die Fahne zu, die auf dem Kamm einer Düne flatterte. Es war nur das Summen der Insekten in den Sträuchern zu hören, und etwas später das Knattern der Fahne. In einem ummauerten Rechteck lagen ein paar hundert Gräber in übersichtlichen, rechteckigen Beeten, die von peinlich sauber geharktem Kies eingerahmt waren. Ein Mann sprengte mit einem Gartenschlauch die Beete, hier und da kümmerten sich ältere Leute um die Blumen auf den Gräbern oder saßen auf einer Bank und unterhielten sich leise. Auch im Schatten einer hohen Mauer mit Namen und Inschriften in Bronze saßen ein paar Besucher. Als Anton niemanden erkannte, wurde ihm bewußt, daß er damit gerechnet hatte, vielleicht Takes hier zu sehen. Sandra fragte den Gärtner, ob er wisse, wo das Grab von Truus Coster sei. Ohne nachzudenken, deutete er auf ein Grab, neben dem sie gerade standen.
    Catharina Geertruida Coster
* 16. 9. 1920
gest. 17. 4. 1945
    Sandra legte ihre blaue Rose auf den grauen Stein, und nebeneinander standen sie vor dem Grab und schauten auf die Blume. In der Stille klang das Knattern der Fahne und das Klatschen der Leine gegen den Mast trauriger als jede Musik. Dort unten im Sand ist es nun noch viel dunkler als damals, dachte Anton. Er betrachtete die in mathematischer Übersichtlichkeit daliegenden Gräber – eine Ordnung, in die man das Durcheinander des Krieges gebracht hatte – und sagte sich: Ich muß zu Takes, wenn er noch lebt, und ihm sagen, daß sie ihn geliebt hat.
    Als er am nächsten Nachmittag zum Nieuwe Zijds Voorburgwal kam, war ›d'Otter‹ abgerissen, und das offensichtlich schon geraume Zeit, denn auf dem grünen Bauzaun klebten die Plakate bereits in mehreren Lagen übereinander. Als er Takes auch im Telefonbuch nicht fand, gab er auf.
    Erst zwei Jahre später, 1980, am 5. Mai, sah er ihn zufällig im Fernsehen, bei einer Gedächtnisfeier, die fast schon zu Ende war, als er den Apparat einschaltete: ein Greis mit weißem Bart und eindrucksvollem, verwüstetem Gesicht, das er nur deswegen erkannte, weil der Name kurz im Bild erschien:
    Cor Takes
Widerstandskämpfer
    »Hör doch auf mit dem Blödsinn«, sagte Takes zu jemandem, der neben ihm auf einer Bank saß, »das war doch alles großer Mist. Ich will eigentlich überhaupt nichts mehr darüber hören.« In der Stadt jedoch sah Anton immer häufiger kleine weiße Lieferwagen, auf denen in roten Lettern stand:
    FAKE PLOEG SANITÄRBEDARF GMBH

2
    Und wie das Meer alles auf die Küste wirft, was die Schiffe verloren haben – der Stranddieb sammelt es ein vor Sonnenaufgang –, so trat der Kriegsabend 1945 noch einmal in Antons Leben.
    In der zweiten Novemberhälfte des Jahres 1981, an einem Samstag, wurde er von so unerträglichen Zahnschmerzen wach, daß er sofort etwas

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