Das Attentat
sich seine Rezepte selbst ausschreiben konnte, sondern weil er wußte, daß er für den Rest seines Lebens Tabletten schlucken würde, wenn er einmal damit angefangen hatte. Die Anfälle wiederholten sich noch ein paarmal, wurden jedoch von Mal zu Mal schwächer und blieben schließlich ganz aus – als wären sie durch das Zerreißen des Rezeptes vertrieben worden. Als habe er gezeigt, wer Herr der Lage war.
Nur sein Haus und die Aussicht von seiner Terrasse waren nicht mehr wie vorher. Nach dem Nachmittag hatten sie etwas von ihrer Vollkommenheit verloren. Wie ein schönes Gesicht, das von einer Narbe entstellt wird.
Die Zeit verstrich. Er wurde früh grau, aber nicht kahl wie sein Vater. Während um ihn herum das Äußere der Menschen in dem Maße verproletarisierte, wie das Proletariat verschwand, trug er weiterhin englische Sakkos und karierte Hemden mit Krawatte. Allmählich kam er in ein Alter, in dem er alte Leute kannte, die er schon gekannt hatte, als sie so alt waren wie er jetzt. Die Entdeckung überraschte ihn und ließ ihn sowohl alte als auch junge Menschen und vor allem sich selbst mit anderen Augen sehen. Eines Tages war er älter, als sein Vater je geworden war, und er fühlte sich, als hätte er eine Übertretung begangen, die ihm eine Zurechtweisung eintragen könnte – Quod licet Iovi, non licet bovi! Während er früher nie ein Sprichwort gebraucht hätte – etwa »Was geschehen ist, ist geschehen«, oder »Das Bessere ist des Guten Feind«, oder »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr« – kam er nun in ein Alter, in dem solche Sprichwörter präzis seine Ansichten wiedergaben. Er entdeckte, daß es nicht einfach nur peinliche Klischees waren, sondern daß darin auch die geballte Lebenserfahrung ganzer Generationen zum Ausdruck kam – zugegeben: in der Regel ziemlich betrübliche Wahrheiten. Sie enthielten nicht die Weisheit der Himmelsstürmer – denn die waren nie weise –, und zu den Himmelsstürmern hatte er nie gehört, das war verhindert worden.
Nach dem Tod seiner Tante ließ er ihr Portrait rahmen und stellte es neben das seines Onkels auf den Schreibtisch, aber nicht in einem seiner Häuser, sondern in seinem Zimmer im Krankenhaus. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre starb auch de Graaff. Zu seiner Einäscherung kamen viel weniger Leute als zu der Beerdigung vor zehn Jahren. Henk war da, mit grau gewordenem Schnurrbart, und Jaap, mit nun schon schlohweißen Haaren, der Minister und der Bürgermeister waren tot, ebenso der Pastor, der Dichter und der Verleger. Auch Takes, den er nach dem Besuch nie wieder gesehen hatte, fehlte; als er sich aber nach ihm erkundigte, meinten alle, er müsse noch leben, obwohl in den letzten Jahren niemand etwas von ihm gehört hatte. Ein paar Wochen später starb auch seine frühere Schwiegermutter. Als er (zum zweiten Mal in diesem Krematorium neben Sandra, Saskia und ihrem Mann) den Sarg in den Feuerkeller sinken sah, wunderte er sich, daß ihr glänzender schwarzer Stock mit dem Silberknauf nicht auf dem Deckel lag, wie bei einem General.
Obwohl der Krieg immer wieder durch neue Bücher und Fernsehsendungen in Erinnerung gerufen wurde, begann er allmählich – wenn man das so sagen kann – vor sehr langer Zeit stattgefunden zu haben. Irgendwo hinter dem Horizont verblaßte das Attentat auf Ploeg zu einem obskuren Vorfall, von dem außer ihm kaum noch jemand etwas wußte – ein grausiges Märchen aus alter Zeit. Als Sandra sechzehn Jahre alt war, gab sie eines Tages zu verstehen, daß sie jetzt doch sehen wolle, wo ihr Opa und ihre Oma ums Leben gekommen seien. Weder Saskia noch Liesbeth hielten etwas von dem Vorhaben, aber Anton hatte keine Einwände, und an einem Samstagnachmittag fuhr er mit ihr nach Haarlem, über die vierspurige Autostraße, vorbei an den endlosen Hochhausvierteln, wo früher der Torfstich gewesen war, und über dreistöckige Viadukte, die auch den Kanal verschluckt hatten. Mehr als ein Vierteljahrhundert war er nicht hier gewesen, nicht einmal Saskia oder Liesbeth hatte er die Stelle gezeigt.
Die Stelle. Er mußte lachen. Die Lücke im Gebiß war mit einem goldenen Zahn geschlossen worden. Wo einmal das Haus seiner Eltern gewesen war, stand nun mitten auf dem geschorenen Rasen ein niedriger weißer Bungalow im Stil der sechziger Jahre, mit breiten Fenstern, Flachdach und angebauter Garage. Am Zaun stand ein Schild: ZU VERKAUFEN. Er sah sofort, daß auch Beumers Haus umgebaut worden war; unten war
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