Das Auge Aldurs 3 - Der Riva Kodes
eingetroffen war. Und ich schloß, mein Gewährsmann habe sich einen Spaß mit mir erlaubt, denn als ich Muße hatte, über seine Worte nachzudenken, erkannte ich, daß er mir einen Bären aufgebunden hatte, denn kein Mann und keine Frau, wie edel oder mächtig sie auch sein mögen, könnte die Last von tausend Jahren tragen. Und beinahe mußte ich laut lachen, daß ich so etwas auch nur für möglich gehalten hatte.
Und dann flog aus dem azurblauen Himmel auf leisen Schwingen eine große Schnee-Eule herbei, und zu meiner Überraschung kam sie im steilen Flug genau zur Mitte des Platzes herunter, auf dem dicht an dicht die Menschen standen. Und im letzten Augenblick schlug sie mit ihren mächtigen Schwungfedern, und zugleich schien sie ein sonderbares Schimmern zu umgeben – nicht unähnlich den Luftwirbeln über einem aufgeheizten Stein. Als nun dieses sonderbare Schimmern verblaßte, sah ich mit Staunen, daß die Eule verschwunden war und an ihrer Stelle die schönste Frau stand, die mein Auge je erblickt hatte. Ganz in Blau gewandet, schritt sie mit gebieterischem Blick über den Platz, und alle Anwesenden verneigten und erniedrigten sich vor ihr. Ich allein, sprachlos und gelähmt von ihrer Schönheit, verbeugte mich weder, noch bezeugte ich ihr anderweitig meine Ehrerbietung. Als sie das sah, näherte sie sich mir mit spöttischer Miene; ein kaum merkliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Und als sie sich mir näherte, sah ich, daß ihr rabenschwarzes Haar an der Schläfe eines Locke von reinstem Schneeweiß aufwies. Ihre herrlichen Augen ruhten auf mir, und ich gestehe, daß mein Herz zu schlagen aufhörte.
Und dann erhob sie die Stimme und sprach: »Warum bist du so blaß, junger Mann? Hast du noch nie eine so schlichte Zauberei gesehen?« »Meine Herrin«, stammelte ich, »vergebt mir. Es ist nicht Eure Zauberei, die meine Glieder ihrer Fähigkeit beraubt hat, sich zu bewegen, sondern Eure Schönheit.«
Und sie lächelte mich an und sprach: »Du bist ein redegewandter junger Mann.«
Kühn geworden durch ihre Ermutigung, platzte ich heraus: »Fürwahr, meine Herrin, Ihr seid die schönste aller Frauen.«
Und auf diese Worte hin trat ein schwaches freudiges Strahlen in ihre Augen, und sie berührte meine Wange, und dann erwiderte sie und sprach: »Ja, ein lieber junger Mann, ich weiß.«
Und dann sah sie mich voller Ernst an, und sie fuhr fort und sprach: »Du bist fremd hier, und du weißt nicht, wie oder warum du an diesen Ort gekommen bist. Es wird nicht mehr lange dauern, bis du erwachst.«
»Ach«, sagte ich, und mir drehte sich das Herz im Leibe herum. »Ist dies nur ein Traum?« »Nein, lieber Jüngling«, erwiderte sie da, »dies ist wirklicher als die Welt, aus der du stammst. Kehre zu deinem Volk zurück und berichte ihm, was du gesehen hast, und sage ihnen auch, daß die Zeit der Wahl gekommen ist, wenn sie mich draußen in ihrem Land erblicken. Denn ich werde erst ins Land deines Volkes kommen, wenn es wählen muß, und dein Volk möge mein Kommen als ein Zeichen betrachten.« Und mit diesen Worten berührte sie meine Wange ein letztes Mal, wandte sich um und verschwand. Und so groß war meine Gemütsbewegung, daß ich ohnmächtig zu Boden sank.
Und wisset, als ich erwachte, befand ich mich weder in der großen Stadt noch in jenem scheußlichen Wald, wo ich vom Weg abgekommen war, sondern wieder in meinem eigenen Haus und meinem eigenen Bett. Und ich schloß, daß es bloß ein Traum gewesen war, was ich gesehen hatte – dann aber erblickte ich eine einzelne weiche, weiße Feder auf meiner Bettdecke, und da wußte ich, daß die Herrin in meiner Vision die Wahrheit gesprochen hatte und daß ich sie wahrhaftig gesehen hatte und daß sie einstmals in das Land meiner Väter kommen würde, um mein Volk zur Wahl aufzufordern.
Einmal, als ich zur Erfüllung gewisser Aufgaben in den Westen gegangen war, ergab es sich, daß ich zur Insel der Stürme reisen mußte, um einem Wunder beizuwohnen, von dem ich meinen Brüdern und Schwestern bei meiner Rückkehr nach Kell dann berichten konnte.
Es war die denkbar schlechteste Jahreszeit für eine Reise, denn die See tobte, und oftmals drohte der Wind das Schiff, das mich zu der fernen Insel trug, unter die hungrigen Wogen zu drücken. Schließlich aber legten wir am Vorabend jenes Festes, das der gesamte Westen begeht, am Ufer vor der Stadt Riva an. Und die Stadt vibrierte ob der Neuigkeit, daß der Orb Aldurs, welcher gestohlen worden war, am morgigen
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