Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
über die mannshohen Brettwurzeln eines Flügelfruchtbaumes gespannt war.
„Sehen Sie sich die Leute an.“
Zusammen mit den acht, die sie hergebracht hatten, zählte Leonard fünfundzwanzig Männer, alle zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Keine Alten, keine Frauen, keine Kinder.
„Vielleicht eine Gruppe auf der Jagd.“
„Dazu sind es zu viele. Und auf der Jagd errichten sie auch kein so lches Lager.“
Seinen Schutz suchend legte Nini ihre Hand in Leonards. Die einzige Frau in einer wilden Gesellschaft zu sein, erzeugte unangenehme Phantasien in ihr. Die Nomaden verhielten sich abwartend. Für Nini und Manao interessierte sich niemand, man behandelte beide, als wären sie wirklich unsichtbar. Alle Augen richteten sich auf Leonard. Aus dem Schatten des Blätterdaches trat eine Gestalt hervor und näherte sich ihm mit gemächlichem Schritt.
„Jesus Maria!“
Nur durch diese Beschwörung, ein karger Rest seiner christlichen Erziehung, bekam Manao den Schreck ihn in den Griff. Das Gesicht des Eingeborenen durchzogen unzählige Schnittwunden. Die Augenbrauen und Wimpern fehlten und statt der weißen Bemalung, wie sie die anderen trugen, umrandeten kreisrunde Narben seine Augenhöhlen. Auf eine groteske Weise ähnelte die Fratze der zerschnippelten Mumie in dem schwarzen Ei. Mit heiserer Stimme richtete er das Wort an Leonard.
„Es ist der Schamane“, stammelte Manao.
Selbst jetzt, da er übersetzte, wurde er vollständig ignoriert. Er stockte kurz, wandte sich verwirrt an Leonard.
„Das verstehe ich nicht.“
„Spricht er einen anderen Dialekt?“
„Nein, nein. Ich verstehe schon, was er sagt. Aber es ergibt keinen Sinn. Es sei denn ...“
Aus der Stimme des jungen Dayak hörte Leonard Verblüffung und einen Anflug von Misstrauen.
„Er fragt, wie es Ihnen gelungen ist, von hier zu entkommen.“
Es fiel Leonard schwer, der grausam entstellten Fratze des Schamanen standzuhalten.
„Sag ihm, dass er sich irrt. Ich bin nicht der, für den er mich hält.“
Während Manao sprach, wiegte der Eingeborene seine haarlose, vernarbte Grimasse, die Augen starr wie die schwarzen Kiesel im Schädel der Mumie. Dann bohrte er Leonard einen Zeigefinger in die Bauchhöhle, in Höhe seiner Leber. Ohne die Stimme zu erheben, gurrte er.
„Er muss es wissen. Er will auf die andere Seite. Und Sie sollen ihn begleiten.“
„Was soll das heißen? Auf die andere Seite ?“
„Eine Trance, vermute ich.“
Der Schamane wandte sich abrupt ab und schritt Richtung Flussufer.
„Den Teufel werd ich!“, entfuhr es Leonard. „Hey! Warte!“
Unsanft stieß er den jungen Dayak an.
„Frag ihn, wo sie den Weißen begraben haben, damals. Und ...“
Weiter kam er nicht. Hände packten ihn, hoben ihn in die Luft und trugen ihn davon. Nach kurzem Widerstand gab Leonard auf. An einer Stelle am Ufer zwangen sie ihn, sich auf den Boden zu setzen und banden ihm die Arme auf den Rücken. Die Füße fixierten sie mit Seil an zwei Pflöcke. Einer der Eingeborenen hielt das Ende eines Blasrohres an Leonards linkes Nasenloch. Kräftig blies der Mann in das Mundstück, eine scharfe Substanz fuhr direkt in Leonards Hirn. Bitterer Schleim kroch in den Rachen, Kribbeln breitete sich in den Adern aus. Der Danah Oht streute eine Lanzenspitze graues Pulver in das Endstück des Blasrohres und wiederholte die Prozedur bei dem Narbengesichtigen.
Kurz darauf begann der Schamane, kehlige Laute hervorzustoßen. Eine Folge aus drei Tönen, immer wiederkehrend. Es klang, als würde ein Gorilla versuchen, zu singen. Er zog einen unsichtbaren Kreis um sich und den gefesselten Leonard. In die Mitte stellte er eine Schale, gefüllt mit einer dunklen Flüssigkeit.
Die Droge, die man ihm verabreicht hatte, verbog die Sicht. Diffuse Formen waberten heran und verschwanden wieder. Ein leichtes Halluzinogen, dachte Leonard. Was war das dort? Keine Schale. Das Schädeldach eines Menschen!
Mit flinken Bewegungen fuchtelte der Schamane dicht über den Rand des halbierten Schädels. Plötzlich entzündete sich die Flüssigkeit in einer Stichflamme. Sie sackte zusammen, formte bläuliche Zungen, die die Flüssigkeit langsam verbrannten. Ranziger Geruch stieg empor. Die Laute des Schamanen vermischten sich mit denen irgendwelcher Tiere. Darunter erklang noch ein anderer Ton, ein metallisches Singen. Unsichtbare Finger zogen an Leonards Mundwinkeln, irre kicherte er vor sich hin. Rasch wechselte das Licht, als würde es im Minutentakt Nacht und wieder
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