Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
darauf überschritten, trennte auch nicht zwei Länder, sondern das Licht von der Dunkelheit. Übergangslos änderte sich die Vegetation. Die Bäume rückten dichter zusammen und ihre Kronen, ineinander verschlungen, sperrten die Sonne vollständig aus, als wäre bereits die Dämmerung gefallen. Im Zwielicht krümmte sich ihnen ein verfilztes Gewirr aus Gestrüpp, Schlingpflanzen und Luftwurzeln entgegen. Eine unnachgiebige Wand, die sie am Fortkommen hindern wollte. Sie quälten sich über vermooste, rutschige Baumwurzeln, hoch wie Gartenzäune, stapften durch schwarzen Morast, auf den nie ein Lichtstrahl fiel. Dornen zerrten an den Hosenbeinen wie die Klauen bösartiger Erdgeister. Um die ersten, steilen Hänge zu umgehen, änderten sie mehrmals die Richtung, den düsteren Taleinschnitten folgend.
Den zweiten Tag verbrachten sie in völliger Finsternis. Geleitet vom spärlichen Licht der Taschenlampen durchschritten sie eine fünfzehn Kilometer lange Höhle, von den Sturzbächen des Monsuns im Laufe der Jahrhunderte aus einem Kalksteinmassiv gefräst. Ammoniakgeruch von Fledermaus-Exkrementen biss in ihre Augen und nahm ihnen den Atem. Sie verscheuchten die Frage, welcher Art die Flüssigkeit war, die ihnen Haar und Kleidung tränkte. Gähnende Löcher zu beiden Seiten öffneten abzweigende Gänge, ein stockdunkler Irrgarten. Ihre Angst, der Dayak würde in der ersten Nacht das Weite suchen, erwies sich als unbegründet. In der stickigen, von unsichtbaren Wasserläufen durchrieselten Finsternis wurde sie von einer anderen abgelöst.
„Wie findet er den Weg?“, fragte Leonard.
Darauf wusste auch Manao keine Antwort. Seine Vermutung, sie folgten einfach dem Hauptgang, stellte sich als Irrtum heraus. Bald darauf rutschten sie auf Händen und Knien über den schmierig stinkigen Untergrund, Mund und Nase mit einem Tuch geschützt, die Rucksäcke vor sich herschiebend. Ihr Eingeborenen-Führer hielt sie zur Eile an.
„Er sagt, bei plötzlichen Regenfällen sind diese Gänge eine Todesfalle.“
Gebannt auf jeden fernen Donner horchend verdoppelten sie ihre Anstrengung. Als sie endlich durch ein kreisrundes Loch ins Freie fielen, dachte Leonard, sie hätten das Schlimmste hinter sich. Selbst, als er den dumpfen Modergeruch des ewig faulenden Waldbodens einsaugte, empfand er als befreienden Atemzug. Die Erleichterung währte nur bis zur Mitte des dritten Tages. Sie folgten weiter engen Tälern, die Gipfel verborgen hinter dichtem Blattwerk. Das dampfende, von Nebelschwaden durchzogene Grün selbst kroch ihnen ins Mark. Und sie ahnten, warum es die Sehenden Wälder genannt wurde. Bäume und Pflanzen vereinten sich zu einem einzigen, gigantischen Organismus mit tausend Augen. Im dunklen Unterholz, in den Höhen lauernd, hinterhältig jeden ihrer Schritte verfolgend. Unmerklich schwanden die Stimmen der Tiere, je weiter sie vordrangen. Die Nervosität des Eingeborenen-Führers stieg. Vorsichtig setzte er nur einen Schritt vor den anderen. Dann blieb er plötzlich stehen, gespannt, seine Machete fest umklammert. Vor ihnen wirbelte ein lichter Nebel durch die Baumreihen, kreuzte ihren Weg.
„ Anek atao “, krächzte er und wies mit der freien Hand nach vorn. „ Anek atao. “
Als sich die dünnen Nebelfäden verzogen, gaben sie ein schwarzes Gebilde frei, in der Form eines riesigen Vogeleis, über einen Meter hoch. Der Länge nach gespalten stand es im Geriesel eines flachen Bachlaufes. Zu dem gezackten Astgewirr der Umgebung erzeugten die glatten Außenseiten des steinernen Eies einen unwirklichen Kontrast.
„Wirkt nicht besonders abschreckend auf mich“, meinte Leonard. „Sonderbar vielleicht.“
Der Eingeborenen-Führer beurteilte das anders. Kurz wedelte er mit der Machete Richtung des Eies, um anzuzeigen, dass sie das Gesuchte jenseits davon finden würden. Dann sprang er davon und verschwand hinter der Blätterwand. Leonard fand nicht einmal Zeit, über eine Belohnung nachzudenken.
Die drei näherten sich dem Stein.
„Wie zeigt es den Weg?“, fragte sich Manao.
Der Bach umlief die Flanke eines Berges, vollständig bedeckt mit dem gleichen, düsteren Gewächs, das sie nun seit drei Tagen als dunkler Schatten überwucherte.
„Sieht aus, als gibt es nur zwei Möglichkeiten. Links oder rechts dem Lauf des Baches entlang.“
Sie entdeckten es alle drei gleichzeitig.
„Himmel!“
Das Innere des Steins war ausgehöhlt. In der Spalte steckte eine mumifizierte Gestalt, die lederne Haut in Streifen
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