Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
bewaffnet. Ihre Hautfarbe verbarg sich unter einer Bemalung aus roten und schwarzen Mustern, die Augenpartie weiß umrandet. Einer trug eine Halskette aus menschlichen Zähnen, ein anderer schmückte sich mit einer Haartrophäe. Weder stammte sie von einem Eingeborenen, noch von einem Indonesier oder Malaien. Das Büschel besaß eine dunkelblonde Färbung! Ein Ausländer wie Leonard selbst.
Töteten sie alle Eindringlinge, um unsichtbar zu bleiben? Die Anspannung kaschierte er mit aufgesetzter Fröhlichkeit.
„Verdammt glücklicher Zufall, ihnen so schnell zu begegnen.“
„Eines kann ich Ihnen versichern“, wandte Manao flüsternd ein. „Diese Leute treffen Sie nicht zufällig. Nicht hier.“
Die acht Waldmenschen blieben stumm und musterten die Fremden mit ausdruckslosen Gesichtern. Der mit der Zahnhalskette ging auf Leonard zu, richtete die gezackte Lanzenspitze nach vorn und drückte sie mehrmals gegen Leonards Brustbein.
„Was wird das?“
„Keine Bewegung!“, mahnte Manao.
Auch ohne die Warnung hätte Leonard keinen Finger gerührt.
„Es sieht aus, als wollten sie sichergehen, dass Sie kein Geist sind.“
„Warum tun sie das nicht auch bei euch?“
„Vielleicht sehen sie zum ersten Mal einen Weißen.“
„Das bezweifle ich.“
Als Leornard auf das blonde Haarbüschel zeigte, weiteten sich Manaos Augen in Schrecken. Mehrmals schluckte er, um seinem rasch austrocknenden Mund wieder Töne zu entlocken. Vorsichtig sprach er die Männer in seinem Dayak-Dialekt an. Es rief keinerlei Reaktion hervor. Der Eingeborene senkte seine Lanze und trat weiter vor, bis seine Nasenspitze dicht an Leonards Kinn reichte. Dann fuhr er mit zwei Fingern durch Leonards Haar, drückte mit dem Daumen grob in eine Wange. Dabei zeigte der Mann kein Zeichen von Angst oder Neugier. Leonard fühlte sich, als werde er untersucht wie ein Pferd, das zum Verkauf stand. Oder wie ein Ochse, den man schlachten wollte.
„Danah Oth?“, zischte er dem Mann ins Ohr.
Als sei er von einer Schlange gebissen worden, sprang der Kerl zurück. Auch die Übrigen gingen auf Abstand, duckten sich in Abwehrhaltung und richteten ihre Speere auf die Fremden. Der mit der Halskette verhielt sich jedoch ruhig, sprach auf sie ein.
„Kannst du das verstehen?“
„Einiges. Der Dialekt ähnelt dem, den ich kenne“, antwortete Manao. „Er spricht über Sie. Er sagt sowas wie: Der Weiße hat zwei Leben. Er ist schon hier gewesen, und doch kommt er zum ersten Mal. “
Der junge Dayak reagierte mit Unverständnis, doch Leonard begriff die Bedeutung der Worte sofort. Noch ehe Manao mit der Übersetzung fortfuhr.
„Sie glauben, in Ihnen verberge sich die Seele eines Mannes, den ihre Vorväter begraben haben. Vor zwei Menschenleben.“
„Vor zwei Menschenleben?“, fragte Nini leise.
„Lange Zeiträume bemessen sie nach dem Lebensalter. Hier draußen wird ein Mann vierzig, vielleicht fünfzig Jahre alt. Zwei Menschenleben bezeichnet also einen doppelt so langen Zeitraum.“
Sie glauben, ich bin ER , dachte Leonard. Wie konnte die Kenntnis über das Aussehen eines Mannes zwei Generationen überdauern?
Der Kerl mit der Halskette schnarrte ihnen kurze Laute entgegen und unterstrich sie durch eine herrische Geste mit seiner Lanze. Diesen Befehl, ihnen zu folgen, brauchte Manao nicht übersetzen.
Eine Weile führte sie der Pfad den Hang eines Berges entlang, bis der vorausgehende Danah Oth plötzlich in das Gebüsch schlug. Sie wurden hinterher gedrängt in das bergab fallende Dickicht. Der letzte Waldmensch, der vom Pfad ins Dunkle trat, entfernte eines dieser Blatt– und Astgebilde, das die Stelle markierte. Niemand würde erfahren, dass sie je hier gewesen waren. Sie wurden zu Unsichtbaren.
Das Lager befand sich in einer schattigen Talsohle, durch die sich ein müder Fluss schlängelte. Auch ohne die drei Holzpfähle, die im Ufersand stakten, hätte Leonard die Stelle sofort wieder erkannt. Vielleicht sogar dann, wenn er die Fotografie nicht erst kürzlich noch einmal in der Hand gehalten hätte. Die riesigen Bäume im Hintergrund, der Lauf des Flusses. Für einen kurzen Moment meinte er, Conleys verdorrten Arm aus dem Geäst ragen zu sehen, mit dürren Fingern den Kris umklammernd. Diesen Platz suchten sie seit über hundert Jahren auf. Vielleicht sogar noch länger. Er musste von besonderer Bedeutung sein.
„Ich hab kein gutes Gefühl.“
Manao deutete auf düstere Gestalten, versammelt unter einem geflochtenen Blätterdach, das
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