Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Durch die Bewegung erschreckt fuhr herum. Erst jetzt sah er den wabernden Schatten hinter ihm. Sein Unterarm tauchte hinein, versank wie in schwarzer Tinte.
„Was ...?“
Der Mond rückte in den Zenit, sein Licht verdichtete sich zu einer Säule in der Mitte des Kreises. Der schwebende Schatten verdunkelte sich, ein entsetzlicher Schrei, wie aus Tausend Kehlen gequälter Seelen erfüllte die ganze Kammer. Das irrsinnige Kreischen hallte von den Wänden wieder. Alle hielten sich die Hände vor die schmerzenden Ohren, sämtlicher Empfindungen beraubt. Kavenay versuchte, seinen Arm zu befreien, fühlte den Druck einer Pranke, die ihn packte. Und dann verschwand er. Sen starrte auf das dunkle Loch.
„Mein Gott. Es ist offen!“
Mit letzter Kraft wankte Leonard auf den Schatten zu. Alle Sinne taub beherrschte ihn nur noch ein Gedanke.
Es ist offen. Was ist dahinter?
Seine Arme verschwanden in der Schwärze, er fiel hinein, der Oberkörper löste sich auf.
„Nein!“, schrie Nini in den höllischen Lärm, sprang vor, ergriff seine Beine, zerrte mit aller Macht.
„Manao! Hilf mir!“
Der junge Dayak fass te seinen Mut, stürmte hinzu. Gemeinsam gelang es ihnen, Leonard aus den Klauen des Schattens zu befreien. Sein Oberkörper war blutüberströmt, eine Hand umklammerte den Stein vom Griff des Dolches, die Träne des Schwarzen Buddha. Mit einem widerwärtigen Schrei brach der dunkle Schatten in sich zusammen, verschluckte Oren Kavenay und das Auge der Dunkelheit. Ein letztes Mal öffnete Leonard seine Augen und berührte Ninis Arm mit kraftloser Hand.
„Ich habe sie gesehen“, hauchte er kaum hörbar. „Ich bin nicht ihr Sohn.“
Seine Lider flatterten, sein Kopf sank zu Boden. Weinend brach Nini über Leonards reglosem Körper zusammen.
„Er ist tot!“
Epilog
Dezember 2013, London, England
Diese letzten Seiten trugen, wie ich eingangs erwähnt hatte, eine weibliche Handschrift. Ich vermutete, das burmesische Mädchen verfasste sie. Da Finney sie an anderer Stelle als zu sehr dem Okkulten hörig beschrieben hatte, hegte ich gewisse Zweifel am Wahrheitsgehalt ihrer Beobachtungen. Vor allem, was den schwebenden Schatten anging und das Verschwinden Kavenays. Gleichzeitig, so fürchtete ich, täuschte sie sich nicht in Bezug auf Leonard Finney selbst. Er hatte dort in der Felsenpagode seinen Tod gefunden. Mich überfiel eine tiefe Traurigkeit, da ich die Hoffnung zerstört sah, diesem Mann noch einmal zu begegnen. Ihm, dessen rätselhafter Bericht auf verschlungenen Pfaden in mein Haus gelangt war.
Doch genau das verführte mich zu einer waghalsigen Schlussfolgerung. Dies und Leonard Finneys letzte Worte.
Er hatte sich einer Bestimmung unterworfen gefühlt, das Auge der Dunkelheit und die Pagode des Schwarzen Buddha dem Vergessen zu entreißen, ihr Rätsel wieder ans Licht zu holen. Ausgelöst wurde sein Glaube an eine Bestimmung durch zwei unschuldige Buchstaben auf dem Umschlag von Blackford Conleys Aufzeichnungen. L.F.
Ich entsann mich des Letzten, das über seine Lippen gekommen war.
„Ich bin nicht ihr Sohn.“
Nicht der Sohn von Martha und Evan Finney. Dann aber war dies auch nicht sein Name gewesen.
Es verbarg sich jemand anderes hinter diesen Initialen. Wem aber wollte Conley dann seine fürchterliche Beichte hinterlassen?
In der gleichen Stunde fand ich mich bei einer Tätigkeit wieder, die ich bisher als Vergnügen gelangweilter Pensionäre verspottet hatte. Ahnenforschung. Ich tauchte in die Vergangenheit des Offiziers. Der Schrecken über meine Entdeckung übertraf die Wirkung des hölzernen Götzen um ein Vielfaches. Blackford Conley hatte eine jüngere Schwester, Levinia. Drei Jahre, nachdem sich Conley in das blutige Abenteuer seines Soldatenlebens gestürzt hatte, heiratete sie. Der Name, den sie annahm, war der meiner eigenen Herkunft. Fosqati. Levinia Fosqati. L.F.
Je weiter ich die Ahnenlinie in die Gegenwart verfolgte, desto heftiger meine Bestürzung. Denn Leonard Finney hatte sich nur zum Teil geirrt, was seine Bestimmung anging. Darin keimte auch wieder ein Schimmer Hoffnung. Das Band, das seine Hinterlassenschaft zwischen uns knüpfte, war nicht zerrissen. Er musste noch am Leben sein. Dieses ganze, Rad für Rad ineinandergreifende Geschehen bildete keine Kette von Zufällen. Es war unser beider Schicksal. Und es hatte sich noch nicht erfüllt.
Unverzüglich begab ich mich auf die Suche nach Leonard Finney. Auf eine wundersame Weise zeichnete ich seinen Weg noch einmal
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