Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
ritueller Gegenstand, eher spiritueller Natur. Diese Dolche stellen eine Verbindung zum Jenseitigen her, sie sind Teil unseres magischen Weltbildes. Der Kris repräsentiert die übernatürlichen Kräfte.“
„Er bietet Schutz vor üblem Schicksal oder vor Feinden“, führte Runciman weiter aus, „er kann Ihnen Glück bringen, sorgt für Ihre Gesundheit. Manche rufen ihn an als Zeuge für einen Eid. Jeder Kris hat seine eigene Aufgabe.“
Leonard überzog die Männer mit spöttischer Miene.
„Unser guter Freund ist ein Skeptiker“, sagte Mahangir milde. „Sie müssen wissen, Mister Finney. Bei uns wird das Übersinnliche als neben uns existierend angesehen, als natürlicher Bestandteil unserer Welt. Mit dem man sich arrangieren muss, im Guten wie im Bösen.“
Auch diese seltsamen Ausführungen würzte der Malaie mit seinem allgegenwärtigen Schmunzeln.
„Und der Kris nimmt darin eine besondere Stellung ein. Ein solches Instrument kann nur von einem besonders dafür Befähigten hergestellt werden. Einem empu. “
„Ein empu?“ Leonard verstand immer noch nicht. Aber wenigstens fand Mahangir den Anfang wieder.
„Ein empu ist jemand, der in der Kunst des Eisenschmiedens ausgebildet ist. Aber er ist auch eine Art Magier, der mittels bestimmter Rituale den Kris sozusagen spirituell auflädt. Was ich damit sagen will: Der Kris repräsentiert die übernatürlichen Kräfte nicht nur, er besitzt sie.“
„Man sagt ihnen die sagenhaftesten Dinge nach.“
Runcimans weihevoller Ton klang lächerlich in Leonards Ohren.
„Es gibt welche, die ihren Besitzer durch lautes Klappern in der Scheide auf eine Gefahr aufmerksam machen. Andere können die Richtung eines Feuers ändern. Manche ...“
Ehrfürchtig tätschelte Runciman den Dolch in seiner Hand.
„... töten einen Gegner, indem man die Klinge einfach in dessen Fußabdrücke stößt, die er im Staub hinterlassen hat.“
Als hätten beide diese Lehrstunde einstudiert, übernahm Mahangir wieder.
„Sie haben einen eigenen Willen. Man hört von Dolchen, die sich selbsttätig an einen anderen Ort begeben.“
„So wie dieser hier.“
Als Runciman ihm den Dolch überreichte, betrachtete Leonard eine Weile die filigrane Maserung. Ohne Zweifel meisterhaftes Handwerk, aber wohl kaum mit übernatürlichen Kräften versehen. Ihn wunderte, dass er Runcimans jungenhafte Schwärmerei für diesen Hokuspokus begreiflicher fand als die Begeisterung des Malaien.
Er wollte sich bei Lin versichern, ob sie sich von den Geschichten beeindruckt zeigte. Aber sie hatte gar nicht zugehört. Stattdessen schätzte sie ihn unmissverständlich ab. Ihr eindeutiges Lächeln verriet mehr als das Mahangirs.
„Sie erwähnten gerade diesen empu Gandring“, sagte Leonard und überreichte Runciman den Kris wieder.
„Und genau da wird die Sache mysteriös.“
„Gandring ist einer der letzten Meister dieser Zunft“, sagte Mahangir. „Er lebt in einem Dorf an der Ostküste. Gleich hinter der Grenze zu Malaysia. Dieses Zeichen auf dem Palmblatt ist seine Signatur.“
„Dann ist dies entweder eine Botschaft von ihm“, schloss Leonard. „Oder die Botschaft ist an ihn gerichtet.“
Die Stirn des Malaien legte sich in Falten, und seine Lippen strafften sich.
„Da ist etwas Böses im Spiel.“
„Allerdings“, sagte Leonard schroff. „Wir haben dreiundzwanzig Mordopfer!“
„Etwas Böses anderer Natur.“
Der Klang in der Stimme Mahangirs alarmierte Leonard. Weil er ihn kannte.
Geh. Geh jetzt. Du hast nicht mehr viel Zeit.
Kapitel 12
Officer Amir Sujardhan rollte von seinem Nachtlager, ächzte unter den Nachwirkungen des vergangenen Abends. Wieder, wie so oft, zu viel arrak im Spiel. Er quälte sich von der Pritsche und betrachtete sein ramponiertes Gesicht in einem fleckigen Spiegel.
Die Sauferei wird dich umbringen, dachte er, aber spielt das jetzt noch eine Rolle?
Die Nacht hatte er in der Polizeistation verbracht, ein armseliger Ziegelbau mit Wellblechdach, ausgestattet mit Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Aktenschrank. Darüber hing das unvermeidliche Porträt des Ministerpräsidenten. In einer Mischung aus Strenge und Güte sah er auf Sujardhans ereignislose Tage herab. Wenn zu viel Schnaps geflossen war, vermied es Sujardhan, sein Zuhause aufzusuchen. Bei einer alten Vettel bewohnte er ein seelenloses Zimmer zur Untermiete. Außer ihm beherbergte sie noch zwei weitere, arme Schlucker. Die Vermieterin empfand es als ihre Pflicht, auf den Lebenswandel ihrer
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