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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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Leonard zu dürftig vor.
„Vielleicht kann ich es anders ausdrücken“, fuhr Mahangir fort, „es gibt im Westen und Osten einen grundsätzlichen Unterschied in der Auffassung von Leben und Tod. Sie im Westen glauben, dies wären zwei voneinander getrennte Daseinsformen.“
Bislang machte sich Leonard keine Gedanken über den Tod. Erst hier, im Fernen Osten, brach er mit Gewalt über ihn herein.
„In unserer Welt stellen das Leben und die Existenz nach dem Tod zwei Teile einer einzigen Daseinsform dar. Sie durchdringen sich gegenseitig.“
Leonard lenkte den Wagen nordwärts auf die Küstenstraße. Linker Hand überragte sie das massive Grün tropischer Wälder. Auf der anderen Seite wechselten sich Felder mit Kokospalmenhainen ab, zwischen denen sich Holzhütten duckten, auf Stelzen gebaut, mit Dächern aus Palmwedeln. Die Idylle bildete den denkbar schärfsten Kontrast zum Inhalt ihres Gespräches.
„Ich habe gehört, bei Ihnen gibt es okkulte Kreise, die Geister herbeirufen und annehmen, diese sprächen aus einer anderen Dimension zu ihnen.“
Mit einer Handbewegung wies Mahangir auf die vorbeihuschenden Hütten.
„Hier bei uns leben diese Geister direkt neben Ihnen, mit Ihnen. Jeder Malaie, der ein Haus bauen will, ruft vorher einen Magier, um den Platz für das Haus spirituell zu reinigen. Man fragt die Geister sozusagen um Erlaubnis.“
„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten“, entgegnete Leonard vorsichtig. „Aber das klingt nach Ammenmärchen ungebildeter Reisbauern.“
„Zum Teil ist es das vielleicht auch“, meinte Mahangir. „Aber wissen Sie, was man sich in Singapur erzählt? Und bedenken Sie, das ist eine moderne Großstadt.“
Eine moderne Großstadt, dachte Leonard, in der man zumindest verwirrende Erfahrungen in chinesischen Apotheken machen konnte. Gespannt wartete er, ob die Erzählung seines Begleiters möglicherweise eine Erklärung dafür enthielt.
„Es geschah im Bezirk Tanjong Pagar. Die Anhänger eines Tempels hatten den Verdacht, ihr Gott sei erzürnt, weil er nicht genügend verehrt würde. Und er deshalb die Absicht habe, ein verheerendes Feuer auszulösen. Kurz darauf sah jemand vor dem Tempel eine Frau in Trauerkleidung. Mit ihrem Haar fegte sie den Staub von der Straße. Ein Geist, der das Feuer ankündigte. Daraufhin flohen zweitausend Familien aus dem Bezirk, aus Angst, Opfer der Flammen zu werden.“
„Ist das Feuer ausgebrochen?“
„Das ist nicht der Punkt. Genauso wenig, ob diese Frau wirklich existierte, ein Geist war oder nur ein Gerücht.“
„Was meinen Sie?“
„Wenn zweitausend Familien wegen dieser Geschichte fluchtartig ihre Häuser verlassen, können Sie die Macht erkennen, die im Glauben an diese Dinge sitzt.“
In Leonard formte sich eine erste Idee von der vollkommen anderen Wesensart, die die Menschen dieses Kontinents von seinesgleichen unterschied.
„Diese Dinge existieren also nur, weil es Menschen gibt, die daran glauben?“
„Eine typisch westliche Betrachtungsweise“, entgegnete Mahangir lachend.
Unbehagen breitete sich in Leonards Magengrube aus.
„Kennen Sie das Old Empire-Hotel, die Sache mit dem Zimmer 300?“
„Ja, ich habe davon gehört“, sagte Mahangir. „Das ist nur Aberglaube. Eine Geschichte zum Gruseln. Taxifahrer tischen sie gerne Ortsfremden auf.“
„Aberglaube?“
„Ja, richtig. Es ist ein Zahlenspiel. Die einzelnen, chinesischen Schriftzeichen haben oft mehrere Bedeutungen. San shi bezeichnet einerseits die Zahl 30, andererseits bedeutet es auch verloren gehen. Und ling kann die Ziffer 0 bedeuten, oder aber den Begriff Seele meinen. San shi ling liest sich also entweder 30 und 0, also 300 oder ...“
„Die Seele geht verloren“, sagte Leonard tonlos. Das unbehagliche Gefühl musste ihm direkt ins Gesicht gefahren sein.
„Was ist mit Ihnen?“, fragte Mahangir besorgt.
„Und 30 und 1?“ wich Leonard aus. „301?“
„Wenn Sie die Zahlen wieder getrennt lesen, haben sie san shi und yao. Und yao steht für die Zahl 1, aber auch für Dämon . Der Dämon verschwindet.“
Leonard hörte wieder das Ächzen der Wände, sah Dunkelheit, die fiel, wo vorher noch Licht war. Doch nicht die Droge? All das Unerklärliche knüpfte rätselhafte Verbindungen. Wäre ihm nicht ohne Anlass dieser entsetzliche Schmerz in den Kopf gefahren, hätte er nie diese Apotheke aufgesucht.
„Wie gesagt, es ist Aberglaube. Trotzdem würde kein Chinese auch nur einen Fuß in dieses Zimmer setzen.“
Zu Leonards

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