Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
ist.“
„Aber warum?“, fragte Lin. Ihre Stimme zitterte. Bei ihr zeigte sich als einzige am Tisch Erschütterung über den Vorfall.
„Der Tote in Laderaum III“, sagte Leonard nachdenklich.
„Der Voodoopriester?“, hakte Runciman nach.
„So ähnlich. Ein Schamane. Er war als Passagier an Bord.“
„Eins verstehe ich nicht“, warf Lin ein. „Die Besatzung bestand aus dreiundzwanzig Männern. Wenn dieser Priester ein Passagier war, dann fehlt doch einer.“
„Von der Mannschaft arbeitete jemand mit den Angreifern zusammen.“
Sofort brauste Talley wieder auf.
„Der Vermisste ist der 1. Offizier. Für den leg ich meine Hand ins Feuer.“
Eine herrische Geste Runcimans brachte ihn zum Schweigen.
„Diese zwanzig Stunden, die das Schiff auf der Fahrt verloren hat. Hängt das mit dem Toten im Laderaum zusammen?“
„Daran hab ich auch gedacht“, sagte Leonard. „Sie müssen ihn heimlich an Bord genommen haben. In Kuching, so wie es aussieht. Ein Geheimauftrag oder sowas.“
An diesem Punkt der Unterhaltung zeigte sich das erste Mal eine Regung in Mister Mahangirs Gesicht. Der Malaie lächelte leise, im Bemühen, diese Regung wieder auszulöschen.
„Eine sehr rätselhafte Geschichte.“
„Das können Sie laut sagen, lieber Freund“, sagte Runciman. „Womit haben wir es hier zu tun? Was meinen Sie, Leonard?“
Jedem, dem er Sympathie entgegenbrachte, rief Runciman plump vertraulich beim Vornamen. Benutzte er die Nachnamen, stellte das schon eine Drohung dar.
Da er keinen Schimmer hatte, was das alles bedeutete, schwieg Leonard. Jemand tötete sämtliche Personen, die auf eine undurchsichtige Weise miteinander verbunden waren. Die ermordete Schiffsbesatzung konnte man, so hämisch das klang, wohl nur als Kollateralschaden betrachten. Vielleicht bis auf den Kapitän. Er steckte in der Sache drin. Ohne ihn wäre dieser geheimnisvolle Abstecher nach Kuching unmöglich gewesen.
„Bitte entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische, Mister Finney“, wandte Mahangir ein, „was meinen Sie mit Geheimauftrag?“
Englisch war nicht seine Muttersprache. Sein Akzent fügte der Aussprache jedoch eine schmackhafte Note bei, wie ein unerwartetes, aber wohlschmeckendes Gewürz in einem einfachen Gericht.
„Eine Vermutung. Der Mann hat etwas versteckt. Als die ersten Schüsse fielen, ahnte er, dass der Angriff ihm galt.“
„Dann war es was verdammt Wertvolles!“, lautete Runcimans Einschätzung. Als Leonard den Inhalt des schmutzigen Lederbeutels präsentierte, den er zwischen den Reissäcken gefunden hatte, sorgte er für ein länger andauerndes, verwundertes Schweigen.
Caitlin wollte nur noch ihre Sachen abholen. Den Rückflug nach San Diego umzubuchen, hatte Brunswick, der Angestellte der US-Botschaft, übernommen. Ihr Abenteuer hätte unter normalen Umständen das Ende erst in vier Wochen gefunden. Dann wären Vicky und sie von Bangkok aus heimgekehrt. Jetzt gab es keine normalen Umstände mehr. Beide würden sie von Singapur die Heimreise antreten. Sie selbst zweiter Klasse und Vicky in der kalten Gruft des Frachtraumes, in einem Metallsarg. Vollkommen leer schlich Caitlin wie ein Zombie durch die lebhafte Metropole. Ihr Beitrag im Büro der Fluggesellschaft hatte sich auf stummes Nicken beschränkt. Beim Abschied dankte sie Brunswick, weil er sich bereit erklärt hatte, eine weitere Aufgabe zu übernehmen. Vickys Eltern die traurige Botschaft zu übermitteln. Ihr graute bei der Vorstellung, sich mit ihnen unterhalten zu müssen. Und schlimmer noch, ihnen jede Hoffnung zu nehmen, jemals die genauen Umstände zu erfahren. Oder gar einen Schuldigen zu finden. Es gab keine Lösung oder Erklärung, warum ihre Tochter auf diese schreckliche Weise umgekommen war. Natürlich wusste Caitlin, dass sie es nur vor sich herschob. Daheim, in San Diego, würde sie sich diesem Gespräch stellen müssen. Ihr fiel dieser Mann wieder ein vom Polizeirevier, Leonard Finney. Weil er sich noch einmal mit ihr treffen wollte, hatte er auf der Polizeiwache um ihre Adresse gebeten. Es erleichterte Caitlin, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte. Auch er würde nur Fragen stellen, auf die sie keine Antworten geben konnte.
Sie atmete tief durch und betrat das Backpacker-Hostel in der Erskine Road. Ihr Rucksack wartete gepackt, das Zimmer war bezahlt. Nur alles so schnell wie möglich hinter sich lassen. Hoffentlich würde sie niemandem mehr begegnen. Keiner hier wusste von dem Unglück und einen fröhlichen Abschied
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