Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
könnte sie nicht ertragen. Aus dem Aufenthaltsraum hörte sie das Plärren des Fernsehers, aber niemand hielt sich dort auf. Zu ihrer Beruhigung fand sie auch den Platz an der Rezeption verlassen. Sie brauchte keinen Schlüssel. Ihr Zimmer gehörte zur billigsten Kategorie. Eines, in dem man nur ein Bett mietete. Sie teilte es mit drei anderen Globetrottern. Deshalb stand die Tür stets offen. Den Mann im Anzug, der im Halbdunkel auf einem der Betten saß, hatte sie nie zuvor gesehen. Trotzdem war er sicher, die richtige Person vor sich zu haben.
„Entschuldigen Sie, wir haben da noch ein paar Fragen, die den bedauerlichen Tod von Miss Paillin betreffen.“
Caitlin wollte endlich ihre Ruhe und verdeckte den Schmerz mit einer patzigen Antwort.
„Aber ich hab doch auf der Polizeiwache schon alles gesagt.“
„Na ja, die Polizei ist eine Sache.“
Diese Worte erklangen hinter ihrem Rücken. Die Stimme schwang gleichzeitig sanft und kalt. Sie drehte sich um und wurde von bernsteinfarbenen Augen getroffen. Oren Kavenay versetzte der Zimmertür einen leichten Stoß mit seinem Gehstock. Klackend fiel sie Schloss.
„Und um genau zu sein, Miss Libovitz, interessieren wir uns auch viel mehr für ein paar gemeinsame Bekannte.“
„Was denn? Sie erzählen uns was von einer Bande, die mit allen technischen Finessen ausgerüstet ist. Die bereit war, ein ganzes Schiff mit seiner Mannschaft zu versenken. Für DAS DA?!“
Damit brach Talley das Schweigen und spuckte diese entrüsteten Worte in Leonards Richtung. Jetzt hob Runciman beide Augenbrauen. Auf diese Weise bedachte er Leute, die seiner Meinung nach nicht alle beisammen hatten.
„Was soll das sein? Eine Schatzkarte, oder wie?“
Das Stückchen lackiertes Palmblatt, das einzige, was sich in dem Lederbeutel fand, machte auch auf Leonard keinen spektakulären Eindruck. Ein quadratisches Muster aus feinen, ineinander verschlungenen Linien bedeckte die Oberseite. Die vier Ecken außerhalb des Quadrates zierten verschnörkelte Schriftzeichen.
„Möglicherweise hatte er noch mehr bei sich“, sagte Leonard, selbst von dem Fund ernüchtert. „Vielleicht fiel es den Angreifern in die Hände. Aber das hier muss der Schlüssel dazu sein. Man hat den Kerl übel zugerichtet. Trotzdem hat er das Versteck nicht verraten.“
„Erlauben Sie?“, fragte Mahangir, nahm das Stückchen an sich und betrachtete es von allen Seiten.
„Irgendein Ornament. Ich habe nie Derartiges gesehen. Und diese Schriftzeichen müssen sehr alt sein. Sie gehören zu keiner Sprache, die heute noch gesprochen wird.“
Sie wurden in ihren Überlegungen unterbrochen. Drei dunkelhäutige Dienstmädchen betraten das Speisezimmer, um den ersten Gang aufzutragen. Das Mädchen, das hinter Leonard stand, hielt den gefüllten Teller in einer Hand. Mit der anderen legte sie einen Löffel auf den Tisch. Es wäre Leonard entgangen, aber das Mädchen drehte die Handfläche noch einmal, um den Löffel neben der Serviette auszurichten. Zwischen ihrem Daumen und Zeigefinger schillerte ein blassblaues Tattoo wie eine auf dem Wasser schwimmende Blüte.
Der Schmetterling mit der flüchtigen Zeichnung. Die knorrige Hand der Alten aus seinem Fieberwahn.
Schwindel erfasste Leonard. Er drehte sich zu ihr um, sah ihr bronzefarbenes Gesicht, ihre Mandelaugen. Die plötzliche Bewegung und Leonards starrer Blick erschreckten sie. Oder erregte sie eine andere Furcht?
Für einen Moment gelähmt entglitt ihr der Teller und zerschellte auf dem Boden. Die anderen wurden erst durch das zersplitternde Porzellan auf die Szene aufmerksam. Mrs. Runciman sauste um den Tisch und versetzte dem Mädchen zwei heftige Ohrfeigen. Mit Gezeter und Schubsern jagte sie die Dienstmagd vor sich her in die Küche. Dieser Ausbruch kam unerwartet wie ein Schuss, der sich beim Reinigen einer Flinte löst. Er scheuchte alle um so mehr auf, weil Mrs. Runciman bis zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Ton von sich gegeben hatte.
„Alles okay“, beeilte sich Leonard zu sagen und wischte ein paar Nudeln von seinem Hosenbein.
„Kennen Sie sich?“
Mahangirs mild geschwungene Lippen verzogen sich geheimnisvoll.
„Es sah aus, als seien Sie dem Mädchen schon mal begegnet.“
Leonard meinte, auf der Hut sein zu müssen. Dieser kleine Malaie war ein aufmerksamer Beobachter.
„Diese Zeichnung auf ihrer Hand. Die habe ich schon mal gesehen.“
„Irgendein Stammes-Initial, glaube ich“, warf Runciman ein. „Ajay kommt aus Malaysia. Sarawak,
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