Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Erleichterung erreichten sie kurz darauf das Dorf Pasir Bulau, ihr Ziel. Er verspürte einen deutlichen Widerwillen, tiefer in diese Vorstellungswelt einzudringen. Mahangirs Geschichte vom Tempel in Tanjong Pagar hielt er für eine Massenhysterie. Aber das seelenfressende Zimmer 300 existierte. Und keineswegs nur, weil er daran glaubte. Da Mahangir den empu Gandring von früheren Besuchen kannte, wies er Leonard den Weg.
Pasir Bulau bestand aus ärmlichen Holzbauten. Hühner und Hunde streunten in den staubigen Gassen. Nirgends ein Mensch zu sehen, Hütten, Höfe, Läden und Verkaufsstände unbewacht. Der Grund offenbarte sich, als sie in die Gasse einbogen. Das ganze Dorf versammelte sich vor dem Haus des Schmiedes. Stumm wurden die Neuankömmlinge empfangen.
„Eine Geisterbeschwörung?“, fragte Leonard. Und er meinte es nicht einmal ironisch. Schweigend und mit ernstem Gesicht ging Mahangir voraus, sich den Weg durch die Menge bahnend in das Haus, das als Wohnort und Werkstätte diente.
W as ihn mehr erschreckte, vermochte Leonard nicht zu sagen. Die Leiche oder die Tatsache, dass ihm all dies auf grausame Weise bekannt vorkam. Man hatte den Mann geschlachtet. Blut bedeckte den ganzen Boden und Teile der hinteren Wände. Stiche und Schnittenwunden übersäten Gesicht und Oberkörper. Augen und Mund weiteten sich in unbeschreiblichem Schrecken. In der Bauchhöhle ein Loch, groß wie der Kopf eines Kindes. Die Finger beider Hände gebrochen und in unnatürlichem Winkel verbogen. Drei Gegenstände neben dem zerschundenen Körper steigerten das makabere Bild ins Irrsinnige. Ein Fleischfetzen und daneben, blutverschmiert, wie auf einem Esstisch arrangiert, ein Messer und eine Gabel!
Um die Leiche herum standen drei Männer. Officer Sujardhan, ein kepala desa , der Dorfvorsteher, dessen wehleidige Miene von unkontrolliertem Zucken heimgesucht wurde und ein Doktor. Er praktizierte als Veterinär und behandelte Schweine und Kühe, aber wenn nötig, auch Menschen. Zudem brachte er, wenn seine Künste versagten, die Vierbeiner zur Schlachtbank und die Zweibeiner unter die Erde. Die drei diskutierten und Mahangir übersetzte flüsternd für Leonard.
„Bist du sicher?“ , fragte Sujardhan.
„Ja , ja, natürlich“, antwortete der Doktor ungehalten. Er war einer von Sujardhans Saufkumpanen, griff aber schon morgens zur Flasche. Zu seinem Leidwesen hatte heute das unvermutete Auftauchen des Officers den Frühtrunk vereitelt. Missgelaunt deutete er auf das fürchterliche, wie zum Mahl angerichtete Besteck auf dem Fußboden.
„Das ist nicht die Tatwaffe. Die Klinge ist viel zu klein, um solche Wunden zu erzeugen. Und erst recht für das hier.“
Dabei berührte der Doktor die geöffnete Bauchdecke des Toten.
„Hat er noch gelebt, als man ihm das ...“, stotterte der kepala desa .
„Die Schnitte und Stichwunden sind ihm vor dem Tod beigebracht worden. Ziemlich sicher auch das mit den Fingern“, konstatierte der Doktor. „Dann hat man ihm die Halsschlagader durchstoßen, ihn ausbluten lassen und die Leber entfernt.“
Von dem diabolischen Vergnügen getrieben, den Dorfvorsteher zu schockieren, setzte er hinzu: „Oder umgekehrt.“
Sujardhan nahm die Einzelheiten des Tatortes auf. Auf der Werkbank zwei fertige Klingen und ein Rohling. Arbeiten, mit denen der empu Gandring beauftragt war. Alle wiesen rote Sprenkel auf, Tropfen von Blut, über sie hinweggespritzt. Diese Eisen hatte niemand angerührt.
„Die Mordwaffe fehlt also“, schloss er daraus.
„Und die Leber!“
Befriedigt registrierte der Doktor, dass der Dorfvorsteher nach dieser Bemerkung blasser wurde.
„Sie haben die Leber mitgenommen?“, fragte der Mann entsetzt, bemüht, seinen revoltierenden Magen in den Griff zu bekommen. Mit einem Spatel hob der Doktor den Fleischfetzen neben der Leiche an.
„Verspeist “, betonte er. „Man hat die Leber gegessen. Hier, an Ort und Stelle.“
Der Magen des Dorfvorstehers gluckste. Bevor er an Ort und Stelle nachgeben konnte, eilte der Mann zu einem Fenster und erbrach sich ins Freie.
Schon am Morgen, als Officer Sujardhan die Tür zu Gandrings Haus aufgebrochen hatte, war ihm klar geworden, dass dies kein gewöhnlicher Mord war. Was er vorfand, ernüchterte ihn sofort und weckte die alten Instinkte. Diese Schweinerei trug die Handschrift seines ärgsten Feindes. Babi Bunting.
„Das deutet auf einen okkulten Hintergrund“, meinte der Doktor. „Es gibt einen alten Glauben. Danach bemächtigt man
Weitere Kostenlose Bücher